Die Stadtwachen am Fenster bekamen Anweisungen von ihren Kameraden und richteten ihre Aufmerksamkeit nach oben. Man hatte sie von unten gesehen! Ich räumte hastig meine Sigillen beisammen und stopfte sie in meine Jackentaschen. Anschließend stand auch ich auf und mischte mich in die panische Menge der Adepten. Cloe und Richard verschwanden in der Menschenmenge, ohne dass ich zu ihnen kommen konnte.
Ich ließ mich vom Strom aus dem Kurs tragen und sah auf dem Flur, dass zudem Schüler aus den anderen Kursen flüchteten. Und überall befanden sich Wachen, die versuchten, gegen den Menschenstrom zu stemmen und vorwärtszukommen.
Ich hatte in den letzten Jahren jeden Gang der Akademie erkundet und kannte mich innerhalb mindestens so gut aus wie im Bettlerviertel. Ich bewegte mich noch ein paar Meter mit den Massen und arbeitete mich daraufhin in einen leeren Seitengang vor. Von hier aus gab es für mich tausend Wege durch die Schule.
Nur ... was wollte ich? Ich konnte mit Leichtigkeit flüchten, doch wäre es nicht auffällig, wenn später, sobald sich alles beruhigt hatte, ein Schüler fehlte? Wohl kaum. Ich würde mich da sicher rausreden und erzählen können, ich wäre in der Panik einfach abgehauen, um den Rest des Tages den Unterricht zu schwänzen.
Aber etwas ließ mir keine Ruhe. Das Mädchen, das auf das Dach geflüchtet war … Wie war überhaupt ihr Name? Lymle? Ja, das musste sie sein. Was hatte sie zu verbergen, dass sie sich den Wachen so entzog? Sie sah nicht aus wie eine Mörderin. Sie war überaus sportlich, das hatte sie unter Beweis gestellt, doch einen Menschen zu ermorden, das traute ich ihr nicht zu. Sie wirkte irgendwie zu … zart … fast wie eine Blume, die man schützen wollte, damit ihrer Schönheit nichts geschah.
Was hatte ich da bitte für Gedanken? Für einen Moment hatte ich mich davon forttragen lassen und war tiefer in den Flügel gelaufen, ohne auf den Weg zu achten. Warum dominierte sie meine Gefühle so immens? Etwas an ihr war wahrlich besonders. Und so fasste ich einen Entschluss. Ich würde sie retten.
Sie befand sich auf dem Dach und mit ihr bestimmt auch einige Wachen. Mit denen käme ich schon klar. Sie durften uns nur nicht entdecken und ihnen nichts Schlimmes passieren, nicht so wie letzte Nacht. Das würde nur weitere Stadtwachen in die Akademie locken.
Ich schaute aus einem der Flurfenster, um mich zu orientieren. Dort vorne konnte ich die Fenster unserer Klasse sehen, von wo einige Wachen vergeblich versuchten, auf das Dach zu klettern. Anscheinend war es gar nicht so einfach, in einer Rüstung hochzuklettern. Ich grinste ungeniert vor mich hin und suchte einen Weg zu den Dachtüren.
Im Treppenhaus gab es eine kleinere Treppe, die zu den Dachkammern führte. Ich vergewisserte mich, dass mich niemand beobachtete. Die meisten Schüler waren eh aus diesem Teil des Gebäudes geflohen. Nur ein paar Stadtwachen patrouillierten noch über die Flure. Ich wartete einen Moment ab und schwang mich ungesehen die Stufen hinauf. Die Tür an ihrem Ende war verschlossen. Das Schloss war aber alt und die Tür schon morsch, sodass ein kräftiger Tritt dagegen die Tür aus den Angeln fliegen ließ. Ein großer, staubiger Raum empfing mich. Hier oben war alles mit gebrauchten Möbeln und alten Einrichtungen der Klassenräume vollgestopft. Ich hustete kurz den Staub aus meiner Lunge und rannte zwischen gestapelten Tischen und Stühlen hindurch. Ein paar kleine Fenster spendeten Licht. Am Ende des Dachstuhls kam ich zu der gesuchten Tür, die direkt aufs Dach führen sollte. Ich prüfte nicht mehr, ob sie verschlossen war, sondern gab auch ihr einen kräftigen Tritt und riss sie damit aus den Angeln. Ich eilte weiter hinauf, um nach Lymle zu suchen.
Unser Kurs lag genau auf der anderen Seite des Innenhofes, den ich zuerst auf dem Dach umrunden musste. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie ein paar Wachen es bereits geschafft hatten, hinaufzuklettern. Diese jedoch schienen ihre Rüstungen abgelegt zu haben, um das Mädchen verfolgen zu können. Jetzt konnten sie sich gegenseitig helfen. Ich musste mich beeilen!
Es dauerte endlose Sekunden, um die gegenüberliegende Seite zu erreichen. Der Sport hatte Kraft gekostet, aber die Muskeln waren noch locker. Bislang bemerkten mich die Stadtwachen nicht, doch nicht mehr lange und ich würde in ihren Sichtbereich geraten. Ich nahm meine Karten in die Hand und ließ meine Finger über ihren Rücken streichen. Ich durfte sie nicht zu auffällig benutzen. Einige Wachen schwärmten schon auf dem Dach aus. Da wusste ich, was ich tun konnte.
Ich zog ein paar Herbeirufungskarten heraus und lenkte meine Kraft direkt in meine Karten.
Nach und nach tauchten Katzen auf der Überdachung auf. Einzelne kamen hinter Türen hervor oder kletterten aus den Regenrinnen, andere krochen zwischen beschädigten Ziegeln aus dem Dachinnern. Ich nahm noch einen kleinen Beeinflussungszauber zur Hilfe und die Katzenmeute stürmte auf die Wachen los. Diese waren so verwundert, dass sie versuchten, zurück in den Kurs zu flüchten und vor den wütenden Krallen in Sicherheit brachten. Es würde sie nicht ewig aufhalten, aber hoffentlich lang genug.
Ich eilte über das Dach und suchte nach Lymle. Zusammengekauert neben einer Tür spürte ich sie schließlich auf. Sie hockte versteckt hinter einem großen Schornstein, der die Tür verbarg und ihr Deckung gab. Ich rannte auf sie zu und sah, wie sie mich nur überrascht ansah. Ich packte sie am Arm und zog sie auf die Beine, doch sie strauchelte so stark, dass ich sie stützen musste.
»Komm mit, ich bring dich hier weg – in Sicherheit«, war das Einzige, was ich zu ihr sagte. Ich nahm sie mit zu der Tür und trat sie ein. Jedoch gingen wir nicht in die Akademie hinein, sondern folgten einem kleinen Weg zum Kopfende des Flügels. Da keine Wache in der Nähe war, zog ich meine Zauberkarten hervor und wählte einen Luftzauber. Mit einem gekonnten Wurf schwebte die Karte zu der freien Wiese unter uns. Ich legte meinen Arm um Lymle und warf uns beide von der Kante in die Tiefe.
Der Zauber fing uns nur knapp einen Meter vor den Boden auf. Kein Schrei war über ihre Lippen gekommen. Seltsam, aber ich wollte mich nicht beklagen.
Der Garten der Akademie war menschenleer, weder Wachen noch Schüler hielten sich hier auf. Ohne lange zu warten, nahm ich sie am Arm und zog sie zu einem kleinen Seitentor, um das Gelände zu verlassen. Die Gassen verdunkelten sich und langsam brach die Nacht herein, während wir vorsichtig durch die Seitengassen von Maalan entschwanden.
Kapitel 8 | Lymle | Magier und Technomanten
Ich sank erschöpft an einer Häuserwand zu Boden, als der Junge endlich anhielt und meinen Arm losließ. Wir waren unheimlich weit von der Akademie entfernt. Ich glaubte sogar, dass wir nicht in Richtung Magierviertel, sondern zum Tempelviertel geflohen waren. Der absolut falsche Weg – er hatte mich weiter von Zuhause weggeführt und der Gedanke daran schien mir noch mehr Kraft zu rauben.
Es war bereits dunkel geworden und ich spürte, wie die Angst vor der Finsternis in mir überhand gewann und meine Beine zu zittern begannen. Er beugte sich zu mir hinab und fragte mich etwas. Doch das Rauschen in meinen Ohren verhinderte, dass ich ihn richtig verstand. Schließlich übermannte ein Schmerz meinen Körper, der direkt von meinem Herzen ausging, und ich sank noch mehr in mich zusammen.
Verschwommen sah ich, wie er sich über mich beugte. Einen Moment später machte er wem Platz und lange Haare fielen in mein Gesicht. Eine Frau neigte sich zu mir herunter. Als ich ihre Hände spürte und die warme Kraft, die durch sie in meinen Körper zurückfloss, wusste ich, dass Miss Scarlett gekommen war, um mich abzuholen.
Jetzt vernahm ich auch das blecherne Geräusch der Spinnenmarionetten. Drei Stück hatten sie begleitet und liefen mit ihren vielen Beinchen quer über meinen Bauch, um ebenfalls einen Blick auf mich zu werfen. Ihre Puppengesichter sahen jedoch immer gleich aus.
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