Als Todesart war ihm von Anfang an nur Erschießen als angemessen erschienen. Jede andere Art des Suizids hatte für ihn etwas von feigem Hinwegstehlen . Er war immer ein Mann der Tat gewesen und so sollte die in den Kopf geschossene Kugel ein letzter Beweis seiner charakterlichen Stärke für die Nachwelt werden.
Nachdem die Entscheidung der Todesart getroffen war, hatte er bestimmen müssen, wo er diesen letzten Akt seines irdischen Daseins stattfinden lassen sollte. Daheim, in seinem Haus mit Gracia war auf keinen Fall in Frage gekommen - er empfand noch genug Liebe für seine Frau und hatte noch genug Ehrgefühl in sich, um es ihr nicht anzutun, dass sie ihn finden würde. Auch den Gedanken in freier Natur wie beispielsweise im Wald seinen endgültigen Schlusspunkt zu setzen, hatte er schnell verworfen.
Was, wenn sie meine Leiche monatelang nicht finden? Was, wenn sie mich niemals finden?
Dann gälte er als verschwunden und niemand, dem noch etwas an Reitan lag, konnte dann jemals Ruhe finden - auch nicht seine mittlerweile über siebzig Jahre alte Mutter.
Nein, das konnte er denen, die er zurücklassen würde, nicht antun .
Aufgrund dieser Überlegungen hatte er sich letztendlich dazu entschlossen, die Sache in seiner Firma hinter sich zu bringen - wenn er schon den Großteil seines Lebens, vom Schlafen einmal abgesehen, in seinem Büro zubrachte, warum sollte er dann nicht auch den Tod dort finden?
Die Wahl der Waffe war ihm leicht gefallen, es sollte ein großkalibriger Revolver sein, um einerseits Ladehemmungen vorzubeugen, die bei einer halbautomatischen Pistole vorkommen konnten und um andererseits sicherzustellen, dass er nach dem Kopfschuss auch sicher tot sein würde und nicht mit einem schweren Hirnschaden überleben würde. Reitan hatte nicht vor, jahrelang als Pflegefall vor sich hin zu vegetieren.
Es sollte eine fabrikneue Waffe sein, nicht belastet mit Erinnerungen jeglicher Art - ein nur einmal zu benutzendes Tor in eine andere Welt.
Seine Wahl war schließlich folgerichtig auf die stärkste Faustfeuerwaffe der Welt, die Smith & Wesson Modell 500, gefallen - wenn schon, denn schon.
Reitan trank den letzten Rest seines Whiskys, atmete tief aus und griff nach dem vor ihm liegenden Revolver.
Des Waldes Dunkel zieht mich an.
Das Gefühl des Gewichts, das nun in seiner Hand lag, sein fester Griff um den weichen Gummigriff des Revolvers, erfüllten ihn mit einem Schlag mit einer seltsamen Ruhe. Reitan entriegelte die Trommel und ließ diese mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk ausfahren. Er öffnete mit seiner linken Hand die ebenso in der Kiste befindliche Munitionsschachtel und lud die Waffe konzentriert Patrone für Patrone, bis die Waffe mit fünf Schuss voll geladen war.
Als die Trommel mit einem Klicken wieder einrastete, lehnte er sich zurück.
Noch nicht. Noch einen letzten Whisky .
Reitan legte den geladenen Revolver zurück auf seinen Platz in der Kiste und schenkte sich noch einmal ein.
Während er trank, ließ er die Bilder seines Lebens vor seinem geistigen Auge Revue passieren: seine Schulzeit in einem Schweizer Internat, das er gehasst hatte; die Hochzeit mit Gracia, als er so glücklich gewesen war; seine Studienzeit; sein toter Vater in einem Krankenhausbett, dessen langsam auskühlende Hand er gehalten hatte; das schmerzverzerrte Gesicht seiner Mutter bei der Beerdigung; Schlaglichter aus seinem Alltag als Chef der Firma; der Tag, als er in der Stadt Gracia gesehen hatte, wie sie gerade den Golflehrer küsste.
Sollte er es jetzt wirklich tun?
Ja, er hatte reiflich darüber nachgedacht.
Ja, er würde es tun.
Er trank den letzten Rest seines mittlerweile dritten Whiskys, stellte das Glas ab und griff erneut zur Waffe.
Es war Zeit.
Er hob den langläufigen Revolver auf Höhe seines Kopfes und setzte die Mündung an seine rechte Schläfe.
Sein Finger lag am Abzug.
Dimitri erhält einen Anruf.
Der Computer signalisierte durch den charakteristischen Klingelton von skype einen eingehenden Video-Anruf.
„Dimitri - die Araber!“, rief Sergej Dimitri durch die offene Tür des Badezimmers zu, in dem Vasilenko gerade geräuschvoll pisste. Er fluchte lauthals und kam kurz drauf mit offener Jeans und nacktem Oberkörper aus dem Bad.
Auf dem Weg zum Tisch, auf dem der Laptop neben dem stehenden Sergej auf seinen Einsatz wartete, schnappte sich Dimitri ein einigermaßen frisches Hemd, zog es über und nahm vor dem Laptop Platz.
„Bereit?“, fragte Sergej.
„Moment noch.“, entgegnete Vasilenko und zündete sich eine frische Zigarette an - Machismo verpflichtet.
„Ok, los!“, Sergej klickte auf den Button zur Annahme des Gesprächs.
Das aufpoppende Videofenster zeigte einen elegant gekleideten Araber mit Raubvogelnase jenseits der Sechzig vor einer anonymen weißen Wand irgendwo auf dieser Welt.
„Mein verehrter Freund, gut Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen? Läuft alles zu Ihrer Zufriedenheit?“, eröffnete der Araber jovial die Konversation in englischer Sprache.
„Danke, ich erfreue mich bester Gesundheit und sogar das Wetter in Moskau zeigt sich ausnahmsweise von seiner besten Seite - es ist so sonnig wie mein Gemüt.“, gab Dimitri mindestens ebenso jovial zurück, grinste breit und zog an seiner Zigarette.
„Ist die Leitung sicher?“
„Wir von unserer Seite her haben alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wie sieht es bei Ihnen aus?“
„Die Leitung ist von unserer Seite her hundertprozentig sicher. Haben Sie unsere letzte Zahlung ordnungsgemäß und pünktlich erhalten?“, wollte der Araber wissen.
„Oh ja, das haben wir. Ihre Zahlungsmoral gibt uns bis jetzt keinerlei Anlass zur Sorge.“
„Das freut uns. Wir können hoffentlich auf ebensolche Verlässlichkeit von Ihrer Seite her zählen?“
„Selbstverständlich können Sie das. Aber Sie hätten sich wohl kaum an uns gewandt, wenn Sie diesbezüglich irgendwelche Zweifel hegen würden, nehme ich an. Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass Ihnen irgendwer sonst diese spezielle Ware liefern könnte. Ihre beachtliche Solvenz hin oder her.“, gab Vasilenko leicht gereizt zurück.
Er hatte die Kameltreiber noch nie gemocht, aber sie verfügten über Geld, viel Geld - und darum drehte sich letztendlich doch alles.
„Sie sollten meine gerade getätigten Äußerungen nicht persönlich nehmen. Just business . Und ich nehme an, dass auch Sie mit Ihrem unbestritten guten Ruf und Ihren hervorragenden Referenzen nicht jeden Tag Geschäfte in dieser Größenordnung tätigen.“
Vasilenko ließ die Behauptung des Arabers unkommentiert und kam zum Wesentlichen.
„ Die Lieferung ist während wir hier sprechen bereits auf dem Weg zu Ihnen . Sie sehen also, wir vertrauen darauf, dass Sie sich an unsere getroffene Vereinbarung halten und haben die Sendung bereits auf den Weg gebracht, bevor Ihre Zahlung bei uns eingegangen ist. “
Vasilenko grinste selbstgefällig.
“Die Ware ist vor zwei Tagen in Rotterdam eingetroffen, wurde durch den dortigen Zoll problemlos abgefertigt und befindet sich derzeit auf dem Weitertransport über den Landweg nach Neapel, wo die Container wieder auf ein Schiff verladen werden.“
Komplexe Transportwege erschwerten jede mögliche Ermittlung von Behörden - und wer wusste schon, was die Araber mit der Ware vorhatten?
„Es gab keinerlei Probleme in den Niederlanden?“, fragte der Araber.
„Selbstverständlich nicht - wir erledigen sämtliche zollrechtlichen Angelegenheiten höchst professionell.“
Wie sollte es auch Probleme geben? Der ihnen freundlich gesonnene niederländische Zollinspektor hatte schließlich mit der Abfertigung dieser Container mehr verdient, als ihm der Staat in einem Jahrzehnt zahlte - und das steuerfrei.
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