»Für dich!«
» Die Tassen hoch, der Nichtgeburtstag, der ist da, den wollen wir heut feiern, hurra «, sangen sie im Chor. Jeremy starrte mich mit offenem Mund an, ich starrte zurück. Svante warf Lewis eine Flasche Bier zu, gleichzeitig drehten sie die Deckel ab, setzten die Flaschen an den Hals und ließen sie, gluckgluckgluck, leer laufen. Unter dem anschließenden Rülpser erzitterten die Wände des kleinen Apartments. Ich rieb mir die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte Jeremy eine Flasche in der Hand. »Na dann, cheers .«
Nach ein paar langen Zügen landete die leere Flasche im Mülleimer. Erschüttert hielt ich mich an meinem Becher Tee fest. Tee war ein guter Einlauf, Kamillentee. Ich war nicht wirklich hier, nicht in diesem Zimmer. Das war hier nur Kulisse eines schlechten Films, wackelig und schlecht gebaut.
»Spielst du Karten?«, fragte Svante, ich gähnte unwillkürlich. »Und dann sag uns bitte den Grund deines Hierseins.«
Warum bin ich hier? Wo bin ich? Zitat aus 33 bekannten Filmen, Labyrinth war einer davon, ( Reise ins Labyrinth, Jim Henson, USA 1985.) Warum ich bin hier? Wie lange tun Erinnerungen weh? Wie lange muss sich die Hauptfigur winden und die Augen zusammenkneifen, um glaubwürdig zu wirken? Du Praktikant, kannst nicht einmal Action rufen. McDonald’s war viel zu gut für dich. Ein kurzer Blick noch ins Leere, eine leise Stimme, nur ein Zischeln im Hintergrund. ( Null-Wissen, Blinddarm ). Lewis schlug in die gleiche Kerbe. »Kamst du mit einer bestimmten Absicht hierher?«
Als er meine vor den Mund gehaltene Hand sah, winkte er ab. Ins Bett und nicht mehr daran denken. Die anderen protestierten schwach. Leise schloss ich die Tür hinter mir, auf dem Flur hörte ich sie wieder singen. Diesmal erkannte ich auch Jeremys helle Stimme: » Lirum, larum, Löffelstiel, wer drüben sitzt, der ist zu viel...«
Ich legte mich ins Bett und lauschte dem Ticken des Regens an der Fensterscheibe. Praktika statt McDonald’s, Schülerfilmgruppe statt Schlafen. Ein Stück Zimmerdecke am Fußende meiner Liege wurde durch die Laterne auf der Straße aus der Dunkelheit gerissen. Ein Schatten wie der einer Spinne (Arachnophobia, Frank Marshall, USA 1992.) Jeden einzelnen meiner 756 Filme. Scheiß Null-Wissen. Weiße Wände, leer und ohne Schmuck, ohne Firlefanz. Wie im Krankenhaus, dachte ich, in der Station für Neugeborene.
Flashback:Im fahlen, blauen Mondlicht schimmerte das Blut an meinen Handgelenken schwarz. Immer wieder fiel ich auf den Rücken, zog mich an den Ästen von Tannen wieder hoch, kroch über die Gräber, taumelte zwischen Grabsteinen hindurch und versuchte, den Schmerz an meinen Armen zu ignorieren.
Dann schloss ich die Augen und schlief ein, träumte von Hamburg und einem Berg Videokassetten, träumte davon, den Nachtzug zu verpassen, unter einer dicken Schicht Eis im Wasser zu treiben und nach Luft zu schnappen, und immer wieder tauchte die Holzkiste am Fußende meines Bettes auf.
Wenn ich längs geschnitten hätte statt quer? Ganz sicher hätte es dann nicht einfach nur wehgetan. Schließlich konnte ich anhand eines beliebigen Zwei-Sekunden-Ausschnitts jeden einzelnen meiner 756 Filme, die auf etwa 370 Videokassetten gespeichert an meiner Wand gestapelt waren, zweifelsfrei identifizieren.
Mein Filmwissen nützte mir nichts, absolut nichts, kein einziger von 756 verfickten Filmen half mir, kein einziger. Null-Wissen. Unnütz wie ein Blinddarm. Markus und ich, ich und Markus. Er machte mich wahnsinnig. Der Gefangene von Alcatraz. Und sein Wärter. 756 Filme und Tausende Filmszenen hätten zu irgendetwas nützen sollen. Null-Wissen. Blinddarm. Alles Scheiße.
»Traditions!« Svante hüpfte auf dem Weg zum Bus um uns herum. Der Morgen war grau und kalt, ich fröstelte. Meine Augen brannten, ich fühlte mich wie gerädert. Was machte ich hier? War das Leben nicht scheiße? Und ich war nur Praktikant. Warum hatte noch niemand Action gerufen? Lewis rückte seine Krawatte zurecht. »Seh’ ich gut aus? Seh’ ich gut aus?«
»Was ist das da am Kinn?«, war alles, was mir einfiel. Welche Rolle spielte er? Lewis blieb stehen, fasste sich ans Gesicht und erstarrte.
Svante rannte »Rasieren« rufend die letzten Meter zur Haltestelle. Jeremy und ich sahen Lewis achselzuckend an. »Und dann zu spät kommen«, sagte ich.
»Rasieren muss ich mich doch nicht...«, sagte Lewis. Wir stellten uns neben den Schweden. »...ist was für Spießer«, ergänzte dieser. In der Ferne tauchten die Scheinwerfer des Busses auf. Ich setzte mich auf einen freien Platz, schaltete meinen Walkman ein und starrte in den trüben Morgen. Es war halb neun. Ich gähnte und freute mich auf Supertramp und das Verbrechen des Jahrhunderts als Soundtrack zum Film. Der Bus machte eine Tour über die Dörfer und hielt an der RER-Station.
Mit uns stieg der Typ vom Vortag aus, und wieder hatte er ein weißes Kaninchen im Arm. Ich wollte ihm etwas hinterher rufen, doch da war er bereits verschwunden. Svante und Lewis zogen mich zu einem gelben Bus unter den grauen Dächern der Haltestelle.
Die Disney University war ein kleiner Bau neben dem Hotel Cheyenne. Svante erzählte von Seminarräumen und einem Schulungsraum für Computer. Woher wusste er das? Hinter den Automatiktüren roch es nach Kaffee und Croissants. Nichts von dem, was ich sah, war echt, alles Plastik und Kulisse. Ich war nicht wirklich hier, in dieser künstlichen Welt, in der jeder Tisch an seinem Platz stand, jedes Schild an der richtigen Stelle klebte und jeder Mensch eine Aufgabe hatte. Die Wolken blau, die Bäume grün, mit einem scharfen, flimmernden Rand wie X-Wing-Fighter vor dem Bluescreen. Alles Trick, Kulisse, nicht echt.
Wir bekamen unsere Namensschilder ausgehändigt. Sven auf Plastik, darüber der Turm vom Märchenschloss mit der Narrenkappe. Um uns herum etwa dreißig junge Leute und mindestens zehn europäische Sprachen. Der Kakao im Pappbecher verbrannte mir die Lippen. Er war zu süß, um echt zu sein, und das Croissant roch zu sehr nach Croissant.
An den Wänden hingen Glaskästen, in denen Poster von BuenaVista-Produktionen, Videokassetten von Disneyfilmen und Baseballkappen mit dem Logo der Mighty Ducks ( Mighty Ducks, das Superteam, Stephen Herek, 1992) ausgestellt waren. Requisiten für meinen Film, und ich war was war ich? Komparse? Sollte ich Action rufen?
Ich war nicht der Regisseur, nur der Regisseur konnte Action rufen, ich war nur Praktikant, nur ein fettes, wichsendes Schwein. Neben Lewis tauchte in Anzug und Krawatte ein Mann auf. Was er sagte ging im Lärm unter. Lewis folgte erschrocken dreinblickend dem Mann.
»Seine Hose war zerknittert«, sagte Jeremy.
Svante biss in sein drittes Croissant. »...oder seine Schuhe nicht geputzt!« Ich trank noch einen Kakao. Kurz vor neun tauchte Lewis wieder auf. Sein Gesicht glatt wie ein Babypopo.
»Rasieren oder nach Hause fahren, hat er gesagt. Fuck , zehn Francs hat mich das Rasierzeug gekostet«, schimpfte er auf dem Weg in den Seminarraum. Unser Trainer hieß Richard, war Engländer und nicht ganz dicht.
»Wir sind alle verrückt.« Er ging von links nach rechts und zurück. »Will jemand eine Tasse Tee?«
»Jederzeit«, rief Svante und hob die Hand.
»Nicht vor den Gästen«, erwiderte Richard in seiner perfekt einstudierten Rolle. Wann rief jemand Cut? Mit der ganzen Hand zeigte er auf Svante, bis dieser verlegen zu Boden blickte. Dann griff er nach drei Kollegen der ersten Reihe und zerrte sie vor die Tafel. Ausziehen. Jetzt alle ausziehen und dann fickt euch gegenseitig. Als Aufnahmeprüfung. Nur wenn wir uns richtig durchfickten, durften wir hier arbeiten.
»Gäste«, sagte Richard und richtete die drei mit einem Schlag in den Rücken auf, »sind unser ein und alles. Und warum sind sie das?«
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