Noch während ich überlegte, verschwand der Typ hinter einem Tor. Keuchend blieb ich davor stehen. Castmember only stand auf dem verschlossenen Tor. Rechts davon begann ein dichter Maschendrahtzaun, dazwischen befand sich eine kleine Lücke.
Ich zuckte mit den Schultern und schlüpfte durch den schmalen Durchgang. Ein gepflasterter Weg führte hinter dem Tor links um das rosa Gebäude herum. Ich folgte dem Weg und erreichte ein kleines Pförtnerhaus, das wie eine Grenzstation den Durchgang verwehrte.
» Housing ?«, fragte ich keuchend einen Mann hinter einer Glasscheibe, wieder in grün, wieder mit einem kleinen Namensschild auf der Brust. Wo war das Kaninchen? Mein Herz schlug hart, meine Lunge brannte. Zehn Meter mehr und ich wäre umgekippt und verreckt.
» Vous travaillez ici ?« Ich verzog das Gesicht. » Are you working here? «
»Ich muss durch... das Kaninchen...«
» Votre contract de travail ...«
»Wie komme ich da nur hin?« Ich durchsuchte meine Taschen nach dem Anschreiben, nach etwas Offiziellem.
» Your workin’ contract... Arbeitsvertrag«, sagte der Mann ungeduldig. Er sprach das deutsche Wort so gelassen aus, als hätte er es bereits hundert anderen fetten, verpickelten Rekruten an den Kopf geworfen, die so verpeilt wie ich gewesen waren. Den Arbeitsvertrag hatte ich im Rucksack. Immer wieder hatte ich ihn während der langen Bahnfahrt angestarrt, wie eine Geburtsurkunde, die bewies, dass ich ein neues Leben startete. Der Mann beäugte das Papier kritisch, nickte, wies mit der Hand auf das Drehkreuz und ließ mich hindurchtreten.
Ein paar Meter weiter links befand sich eine Bushaltestelle. Davor stand wieder der Typ mit Brille und dem weißen Kaninchen unter dem Arm. Gegenüber, hinter einem hohen Wall, über den die Wipfel einiger Tannen ragten, tauchte eine Wasserfontäne auf. Rattern und vielkehliges Schreien hallten wie von einem Jahrmarkt herüber.
»He.« Ich holte viel Luft, unterdrückte den Brechreiz und stellte mich neben den Typen. Er sah auf die Uhr und nickte mir dann zu.
»Hallo«, sagte er kurz.
»Entschuldigung. Aber kannst du mir helfen?«
»Ja, aber ich hab’s eilig.«
»Ich will zum Housing. Wie komme ich da hin?«
Er sah mich lange an. »Du bist neu?« Ich nickte. »Ist ganz einfach. Ich muss in die gleiche Richtung.« Und dann murmelte er wieder mit einem Blick auf die Uhr: »Ich komm’ zu spät, wo bleibt der verdammte Bus?«
Wir warteten ein paar Minuten, die Haltestelle füllte sich mit Menschen jeder Hautfarbe und Sprache. Ein vollbesetzter Bus kam, leerte sich rasch, wir stiegen ein. Ich spürte den Hintern einer kleinen Frau an meinem Oberschenkel. Mit freien Händen hätte ich den straff gespannten Stoff ihres Hosenrocks an meinen Fingerspitzen ertasten können.
»Das Kaninchen...«
»Für eine Freundin. Wo wirst du arbeiten?«
»Im Santa Fe«, sagte ich. »An der Rezeption.«
»Na, dann sehen wir uns ja noch.« Der Bus hielt wieder. Wir stiegen aus, und er zeigte statt mit dem Zeigefinger mit der ganzen Hand durch den Regen in eine Richtung. »Durch das Hauptgebäude, geradeaus und links. Gleich die erste Tür wieder links.« Er sah wieder auf seine Uhr. »Ich muss los.«
»Und wo arbeitest du?«, rief ich ihm hinterher, doch er war bereits im großen, zweistöckigen Betonklotz verschwunden. Vielleicht zu einem Videodreh. Die Franzosen machten gute Pornos.
Zwei Schritte geradeaus, an einer Kantine vorbei, wieder heraus aus dem Gebäude, hinein in die Pfütze. Man sah mich an, als trüge ich statt meiner Taschen ein Paket Pampers mit mir herum. Mitleidiges Lächeln, sofern man mich auf meinem Weg überhaupt beachtete.
Close-up: Nervös kaue ich an den Fingernägeln,
Close-up: Eine Maschine ratscht über meine Kreditkarte, jemand sagt etwas auf Französisch, in den Untertitelten steht ›Mietkaution‹.
Totale: Man verfrachtet mich zusammen mit zwei anderen Mädchen in ein Auto. Kalte Tropfen klatschen mir ins Gesicht. Ob die beiden Mädchen fickten? Ob ich sie bitten konnte, sich für mich auszuziehen? Die eine hatte sehr große Titten, aber ein langweiliges Gesicht. Die andere war viel zu mager.
Ich wagte nicht zu fragen wohin die Reise ging. Die Frau hinter dem Steuer redete ohne Unterlass auf Französisch. Französisch, ein Synonym für Oralverkehr. Ob sie mir einen blies, wenn ich sie darum bat? Oder reichte mir die Fantasie? Der Wagen schaukelte durch ein Tor, verließ das Gelände. Meinen nassen Rucksack umklammernd sah ich zu, wie wir uns langsam vom Park entfernten.
Das also war Frankreich, war das Disneyland Paris. Mein Vater lebte in Frankreich, in einer Kommune irgendwo am Mittelmeer. Frankreich war Niemandsland. Vergeblich suchte ich den Turm des Märchenschlosses hinter den regennassen Fensterscheiben. Außer Sichtweite bogen wir von der Hauptstraße ab in ein von Regentropfen gebrochenes Neubaugebiet. Zwischen Neubaugebiet und Themenpark lag eine riesige Brache, durch Bahngleise von der Straße getrennt. Als wir ausstiegen, ratterte ein TGV vorbei.
Der Regen hatte aufgehört, der Himmel blieb grau. Ich nahm meine Taschen aus dem Kofferraum, mein Blick fiel auf das Schild neben dem am Eingang zu einer Wohnanlage stehenden Gebäude, in dem die Mädchen verschwanden.
Les Pleiades bestand aus etwa einem Dutzend Häusern, drei Stockwerke hoch, rosa angemalt die Holzfassade, mit Sprossenfenstern und kleinen Balkonen. Farbe brachte mich zum Lächeln. Den französischen Mietvertrag verstand ich nicht, den Kollegen fehlte die Geduld, mir jedes Detail zu erklären. Keine Untertitel. Ich nahm es hin, ebenso wie den Code für die Haustür und den Schlüssel für mein Apartment. Höflich, aber bestimmt begleitete man mich hinaus.
Helles Treppenhaus mit Sprossenfenstern, Linoleum voller Brandflecken auf den Stufen, weiße Wände übersät mit gelblichen Spritzern, struppiger Filz auf dem dunklen Korridor, dritte Tür rechts mit Guckloch. Wie in Amerika. Dunkle Gänge, anonym. Wie in den Filmen. Wie in... Ich kniff die Augen zu.
Durch die geschlossene Tür dröhnte laute Musik. In den zweiundzwanzig Quadratmetern, die sich Apartment 203 nannten, stopfte ein junger Typ gerade seine Sachen in den Kleiderschrank neben der Kochnische.
Er erschrak, beugte sich zur Seite, drehte die Musik leise, grinste. Seine Hand war warm und trocken. »Hi, ich bin Jeremy.« Kurze blonde Haare standen hart gegelt nach oben, sein kariertes, zugeknöpftes Hemd hing aus der Jeans. Jeremy mit dem festen Händedruck und dem eckigen Kinn im glattrasierten Gesicht. Ein bisschen Ewan McGregor in Trainspotting ( Danny Boyle, UK 1996 ). Der Film, in dem Kelly McDonald eine geile 15jährige spielte, die sich ficken ließ. Im Kino hatte ich bei der Szene, in der sie auf Ewan ritt und ihre Titten zeigte, eine Erektion bekommen. Wippende, perfekte Titten.
»Stört dich die Musik?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »White Rabbit von Jefferson Airplane. Kennst du das?« Wieder schüttelte ich den Kopf. Natürlich kannte ich es. In Platoon ( Oliver Stone, USA 1986 ) hören es die Hauptfiguren im Bunker beim Kiffen. Als er mich fragte, was ich von unserem Apartment hielt, suchte ich nach dem Wort für Backofen. Jeremy lachte wieder.
»Backofen? Sag bloß, du kannst kochen, mate «, sagte er und hielt dabei einen Wasserkocher hoch. »Hauptsache wir haben eine Kaffeemaschine.«
»Ich dachte an Tiefkühlpizza.« Deep freezer, bucket, stove und hometown . Ich zapfte mein Hirn an und suchte nach Vokabeln wie ein Pionier nach Panzerminen. Und wenn ich länger überlegte, stand Jeremy geduldig neben mir, sah mich amüsiert an und half mir manchmal.
Jeremy drehte die Musik auf, tanzte armkreisend ein paar Schritte vor und zurück und schüttelte den Oberkörper. Ich trat hinaus auf den Balkon und sah über das Feld zum Disneyland, in dem sich der Turm des Märchenschlosses aus der Ebene erhob.
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