Léun fühlte, wie ihm heiß wurde. Auch Arrec wurde schlagartig ernst.
»Warum sollten sie das machen? Er hat doch nichts getan!«
»Bleib hier, rate ich dir.« Héranon beugte sich vor und senkte die Stimme. »Versuch, ruhig zu bleiben – was auch immer passiert. Unnötige Aufregung ruft Káor zu dir. In deiner jetzigen Lage wird alles nur noch …«
»Héranon! Das reicht!«
Der Waldhüter schaute ihn eindringlich an, ohne auf Lóhan zu achten. Aus seinem Blick sprachen Verständnis und eine unausgesprochen fortgesetzte Warnung.
Dann wird alles nur noch schlimmer!
Léun fröstelte und zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Héranon wandte sich Arrec zu.
»Du bleibst bei ihm, bis ich zurück bin«, befahl er mit erhobenem Zeigefinger. »Sieh zu, dass dein Freund keinen Unsinn anstellt!«
Arrec nickte eifrig.
»Ich bin ja auch noch da«, bemerkte Léuns Großvater.
»Also kümmer dich gefälligst um den ganzen Rest«, schnappte der Waldhüter barsch. »Und überlass mir die Dinge, von denen ich mehr Ahnung hab als du!«
Lóhan senkte lächelnd den Blick. Die Geste wirkte, als fühlte sich der alte Mann verletzt. Mit einem Mal hatte Léun das Bedürfnis, ihn zu schützen. Wieder wallte Hitze in ihm auf.
»Reiß das Maul nicht so weit auf, Waldhüter. Das hier ist die Hütte von Lóhan, meinem Großvater, und nicht die deine!«
»Tatsächlich?«, knurrte Héranon wenig beeindruckt. »Sag deinem Großvater Lóhan mal einen schönen Gruß von seinem kleinen Bruder: Er täte gut daran, seinem vorlauten Enkel Manieren beizubringen, bevor der seine Helfer anblafft wie ein Halbdackel.«
Léun blieb die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im Halse stecken. Als er wieder sprechen konnte, hatte der Waldhüter die Hütte grußlos verlassen.
»Er ist dein Bruder?« Ungläubig starrte Léun seinen Großvater an. »Warum hast du mir das nie gesagt? Und warum ist er so viel jünger als du?«
»Na hör mal, mein Lieber, so alt bin ich auch wieder nicht. Aber du hast schon recht …« Lóhan pausierte. »Unsere Eltern, also deine Urgroßeltern, stammten beide aus armen Familien. Mein Vater Hélon verdiente als Waldhüter wenig. Ich blieb lange ein Einzelkind. Später wurde er zum örtlichen Verwalter gewählt – seit Einführung der Talwartschaft gibt es das Amt nicht mehr. Trotzdem wurden wir rasch so reich, dass wir uns sogar ein Pony leisten konnten. Meine Eltern blühten buchstäblich aneinander auf. Plötzlich war da ein Brüderchen. Obwohl ich entscheidungsfrei war, sah ich mich zur bloßen Arbeitskraft degradiert – und musste zusehen, wie Héranon Tag für Tag mehr Aufmerksamkeit bekam als ich während meiner gesamten Kindheit …«
»Hm«, machte Léun ratlos.
»Ich will euch nicht langweilen.« Sein Großvater rieb sich die Stirn. »Wenig später verließ ich unser Elternhaus. Trotzdem war ich unendlich froh über den Tag, an dem Héranon Grüntal verließ. Da war er noch ein Heranwachsender. Als er wiederkam, erinnerte sich kaum jemand an ihn, schließlich war er Jahrzehnte weggewesen. Wir machten uns nie die Mühe, alles und jeden an unsere Blutsverwandtschaft zu erinnern. Wir sind zu verschieden. Er hat seinen Wald, und ich habe …«
»Mich«, grinste Léun.
»Ja.« Der Alte lächelte dankbar. »Meine Familie. Die ihn nie interessiert hat. Láhen, deinem Vater, ist Héranon nie begegnet. Nie hat er mich auch nur gefragt, was zwischen mir und Láryn vorgefallen ist, dass sie und ich uns damals entschließen, wieder getrennte Wege zu gehen. Ich fürchte, mein Bruder ist und bleibt ein Eigenbrötler. Er schert sich nicht darum, was du oder ich …«
»Das stimmt nicht!«, fiel ihm Léun ins Wort. »Héranon ist ein guter Gastgeber. Und er hat mir angeboten, sein Lehrling zu werden.«
»Echt?«, staunte Arrec. »Also das würd mir auch gefallen.«
Lóhan seufzte.
»Was hast du geantwortet?«
»Ich, äh … dass ich einverstanden bin«, behauptete Léun – und erntete prompt den bewundernden Blick seines Freundes.
»Vom Waldhüter zum Löwenbändiger«, schnaubte dagegen sein Großvater. »Da hat sich mein Bruder ja was vorgenommen. Und du willst wirklich sein Nachfolger werden? Ich dachte immer, du hättest eher eine Laufbahn als Tischler im Sinn. Noch beim Frühlingsfest letzten Monat hast du doch Gáret über sein Handwerk ausgefragt.«
Léun zuckte die Achseln. »Ich hab’s mir eben anders überlegt.«
»Ich komm dich auch besuchen, da oben in deiner einsamen Hütte«, versprach Arrec. »Und dann starten wir einen regen Tauschhandel.«
»Wie wär’s mit einer frisch erlegten Sau pro Sack Reis?«, erkundigte sich Léun.
»Eine Sau pro zwei Säcke Reis. Weil du’s bist! Und«, Arrec verzog den Mund, »weil ich mir später nicht dasselbe nachsagen lassen will wie mein Vater. Nur wie krieg ich die Sau runter ins Tal?«
Lóhan schmunzelte. »Na, bis zum Ausbau der Handelswege in Grüntal bleibt euch ja noch genug Zeit. Bis dahin …« Mitten in seine Worte hinein klopfte jemand hart und laut an der Haustür.
»Die Talwartschaft?«, flüsterte Arrec erschrocken.
»Nur die Ruhe.« Léuns Großvater erhob sich und ging gemessenen Schrittes zur Tür. Da pochte es erneut, heftiger als zuvor. Er öffnete.
»Schlechte Neuigkeiten«, sagte Héranon heiser, drückte den alten Mann unsanft aus dem Weg und schloss hastig die Tür hinter sich. »Sárim scheint etwas zu ahnen. Er hat dem Talwart von seinem Verdacht erzählt und …«
»Langsam, ich verstehe nicht, was du sagst«, fiel ihm Lóhan ins Wort. Er folgte dem Waldhüter, der schon Platz genommen hatte, zurück an den Tisch. Héranon ignorierte ihn und begann, eindringlich auf Léun einzureden.
»War ja klar, dass er Ärger machen würde. Auf dem Weg zu seiner Jagdhütte bin ich an der Talwartstation vorbeigekommen. Durch ein offenstehendes Fenster hab ich seine Stimme gehört und bin einfach mal stehengeblieben.«
»Du hast gelauscht«, stellte Léuns Großvater fest.
»Er sagte, dass er als Jäger schon einiges an tückischer Beute erlegt habe. Und dass er aus Erfahrung wisse, wann eine Spur zu Ende ist. Kurzum, er sagte dem Talwart geradeheraus, dass er einen Löwen verfolge und dass nach seiner Überzeugung der Junge – dein Enkel, Bruderherz – der Löwe sei.«
»Héranon, ich glaube nicht, dass Sárim damit …«
»Wart’s doch ab. Er hat noch mehr gesagt. Nämlich dass er einiges über Mensch-Tier-Wandler wisse.«
»Das ist doch gut«, warf Léun ein. »Fragen wir ihn nach dieser Verwandlungsgabe!«
»Er sagte, um einen Mensch-Tier-Wandler zu bannen, müsse man ihn entweder lebendig begraben, ihm einen Holunderbolzen ins Herz schießen oder, was am sichersten sei, kopfüber aufhängen und der Länge nach entzwei sägen.«
Léun schauderte.
»Er hält dich für einen Dämon, Kerl«, flüsterte Héranon. »Gesandt vom Biestgott Rástan persönlich.«
»Dann fragen wir ihn lieber nicht«, murmelte Léun.
»Aber …«, stammelte Arrec, drängte sich an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter, »ich finde nicht, dass du ein Dämon bist.«
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