Unwillkürlich wanderte sein Blick zum Hitlerbild an der Wand. Er senkte seinen Kopf. Das hieß: Ja, so ist es. Das ist die lautere Wahrheit. Führer befiehl, wir folgen dir!
Dennoch: seit jenen Septembertagen ist der Gustav nicht mehr recht froh geworden. Ein ungutes, mulmiges Gefühl in der Magengegend drückte häufig auf die Gedärme und die Seelenruhe. Es belastete ihn nicht, dass Hildegard, seine Frau, kränkelte. Er hatte sich an den Wechsel zwischen andauerndem Unwohlsein, Schüben gefährlichen Trübsinns und hartnäckiger Erkrankung, die sie wochenlang ans Bett fesselte, gewöhnt. Er akzeptierte, dass es eben nicht mehr so wie früher war, als er noch als ein forscher Unteroffizier daherkam, Hildegard jung gewesen war und den widrigen Zeiten zum Trotz vor purer Lebenslust gesprüht hatte.
Schweren Kummer bereitete ihm die Abwesenheit der Söhne. Sein Herzblut hing an beiden.
Nie hatte er es ihnen deutlich gesagt oder gezeigt, aus Angst, die zwei würden ihn auslachen. Das hätten sie in ihrem jugendlichen Übermut sicherlich auch getan. Denn in ihnen glühte die Überzeugung, dass sie einen gerechten Kampf ausfochten, weswegen sie sich nicht schonten und ihr junges Leben in die Bresche schlugen.
Aus dem polnischen Feldzug kehrten beide Kinder gesund mit Orden und Beförderungen zurück.
Der kleine Mann platzte vor Stolz. Jeden Tag während des Heimaturlaubs mussten Hermann und Ernst mit dem Vater ausgedehnte Spaziergänge auf der Herrenbreite und den anliegenden Straßenzügen unternehmen. Gustav hatte das zwanghafte Bedürfnis, seine Diamanten zu zeigen.
Angenehme Gespräche, zackiges Grüßen, freundliche Erkundigungen. „Jawohl, Heil Hitler, beide Jungen haben EK Zwo erhalten, werden Offizierslaufbahn einschlagen. Der Frau geht es gut. Danke der Nachfrage. Also, nochmals Heil Hitler und angenehmen Tag auch.“
Alles war eitel Freude. Ganz im Stillen aber hoffte der kleine Mann, es möge bald vorbei sein.
Noch einmal ging es gut. Aus dem betörend schönen Paris, dem kulturellen Nabel der Welt, sendeten Ernst und Hermann Grüße. So standen eines Tages im Juli 40 zwei mit der Feldpost verschickte Flaschen Hennessy auf dem heimischen Küchenbüffet.
Da sich seine Frau mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett begeben hatte, öffnete Gustav eine Flasche und das dumpfe Gefühl im Magen schwand alsbald, ja verwandelte sich gar in euphorische Stimmung. Bis zum nächsten Morgen.
Die Brüder kehrten aus Frankreich mit der silbernen Kordel an der Mütze und den glatten, blinkenden Leutnantsschulterstücken heim. Oh, welch süße Lust, die Seinen so im Glück zu sehen!
Der Sieg über den Erbfeind nicht weit hinter dem linken Rheinufer berührte unseren Gustav bis ins Mark.
Er gönnte es den „Junken“, wie er es in seiner landsmannschaftlich gefärbten Tonart heraus posaunte. D i e hatten es besser gemacht.
E r war mit dem Odium der Niederlage, die wie Katzendreck an den Schuhen geklebt hatte, von den Schlachtfeldern in Belgien und Frankreich heimgekehrt.
Kein Jubel, kein Siegesrausch. Nur Umsturz, Revolution und die schale Bitterkeit verlorener Jahre.
Da Gustav ein alter Frontkämpfer des Großen Krieges gewesen war, er wie der Führer selbst, in den Gräben unter Granatgewittern und Trommelfeuer ausgeharrt hatte, nahm er es als gewiss an, dass ein solcher Mann das gesunde Maß dessen, was möglich ist, wohl einschätzen könne.
Und er wurde ruhiger. Bis zum Frühsommer des nächsten Jahres.
Als nun an dem schicksalsschweren Sonntag im Juni 41 aus dem Volksempfänger Fanfaren schmetterten, Gustav die Sondermeldung hörte, dass jetzt ein tödlicher Schlag gegen den letzten Festlandsdegen des britischen Empire, nämlich gegen das bolschewistische Russland geführt werde, da rangen ganz plötzlich wieder diese beiden widerstreitenden Gefühle in ihm:
Vertrauen zum Führer, der wegen seines Überblicks über die großen Zusammenhänge der Politik zweifellos das Richtige entscheiden werde. Dann aber der nagende Zweifel, ob das denn wohl auch gut ausginge. Er wagte in jenen Tagen wegen verdächtiger Analogien den Namen Napoleon gar nicht in den Mund zu nehmen. Und nicht zuletzt plagte ihn stärker als je zuvor die nackte Angst um das Leben seiner Kinder, die derweil munter und unbekümmert in der Ukraine Kesselschlachten schlugen.
Auf ein Cannae folgte auf ein Neues.
Schlachten in Dimensionen, wie sie die Kriegsgeschichte bis dahin noch nicht zu vermelden gewusst hatte, wurden gewonnen, aber von Sieg konnte weit und breit nicht die Rede sein.
Das Feld, das Gustav Brennicke als Amtswalter, der er nach der Diktion der Partei nun einmal war, zu beackern hatte, wurde merklich breiter. War das Leben vor dem Krieg, ja auch in den ersten Jahren desselben, als es noch steil bergauf ging, angenehm gewesen, so änderte sich das.
Begleitete er früher die ihm unterstellten Zellenleiter und Blockwarte, wenn sie durch die Siedlung und die angrenzenden Straßen streiften, so war das in aller Regel eine Abfolge von freundlichen Diskursen und wohlmeinenden Erörterungen. Ja, man sei dem Führer dankbar, dass sich alles so sehr zum Guten gewendet habe. Man stehe in Lohn und Brot, habe ein Dach über dem Kopf, was wolle man denn mehr. Und der Geist der Volksgemeinschaft, der durchwehe alle Beziehungen. Er ergreife selbst die Herren Kommerzienräte und Direktoren. Diese Leute seien heutzutage viel entgegenkommender als in der Systemzeit. Von den Verhältnissen davor wolle man gar nicht reden. Da hätten sie für den Arbeiter reinweg gar nichts übriggehabt.
Besonders eilfertig mit hochtönenden Treuebekundungen erwies sich ein Ehepaar aus dem Haus von gegenüber. Ältere Herrschaften zwar, aber in ihrer ruhmredigen Begeisterung, im sich Berauschen an Macht und Größe nicht zu bremsen. Hartmann haben sie geheißen.
Die ersten Siege ließen Stolz aufkommen, fürwahr. Nach dem Frankreichfeldzug war alles förmlich aus dem Häuschen.
Der Krieg in Russland tobte indes heftiger als erwartet. Deshalb vermochten auch noch so aufgeblähte Gefangenenzahlen aus den Kämpfen im Osten die allgemein gedrückte Stimmung nicht zu heben. Die Mieter in den Häusern von Neu-York wurden grüblerischer und schweigsamer. Zweifel wagte keiner geradeheraus zu äußern. Man tarnte sich mit sorgfältig gewählten Worten und vagen Andeutungen hinter historischen Querverweisen, die aber selbstverständlich wegen des Genies des Führers wohl nicht zuträfen. Weite des Raumes? Also bitte schön, wir haben heute motorisierte Truppen! Zweifrontenkrieg? Na hören Sie mal, das im Westen kann man doch nun wirklich nicht mehr Krieg nennen! Niemand rang sich - aus sehr wohl erwogenen Gründen - zu einem klaren Wort durch.
Aber der kleine Mann fühlte, ja er konnte es förmlich mit Händen greifen, dass von flammender Begeisterung da nicht mehr viel zu spüren war. Kühle, intellektuell verbrämte Skepsis allenthalben.
Gerade deshalb sei der Kampf gegen die Miesmacher, die Kritikaster, die zersetzenden Zweifler, die heimtückisch ihr Gift ins Mark der Volksgemeinschaft spritzten, die mit ihren sogenannten Vernunftgründen letztlich der kämpfenden Front in den Rücken fielen, wie Gustav vom Minister Goebbels über Ätherwellen erfuhr, das Gebot der Stunde.
Der kleine Mann war nicht von Stein. Was er wollte und wünschte, das wusste er. Was werden würde, das ahnte er nicht einmal, als er an jenem bereits bezeichnetem Sonntagmorgen im Juni 1941 am Volksempfänger lauschte und plötzlich ganz aufgeregt von seinem Korbstuhl hochsprang:
„Mutti, Mutti, so hör doch mal. Ich glaube, da ist was Gewaltiges im Gange!“
Seine Frau, durch körperliche Leiden vorgealtert, kam bekleidet mit einem schäbigen weinroten Morgenmantel, der an vielen Stellen bis auf die blanke Faser abgewetzt war und aufgelöstem, schütterem grauen Haar aus dem Schlafzimmer in die winzige Wohnstube geschlurft. Gustav schaute. Sie war immer noch schön. Auf ihre Art. Die Jahre, die Sorgen und andauernde Krankheit hatten sie allmählich verfallen und abgehärmt aussehen lassen. Aber sie war eine schöne Ruine, wirkte noch immer irgendwie romantisch und geheimnisvoll. Wie die Trümmer einer Burg, um die sich Efeu und Immergrün ranken und aus deren Fugen Buschwindröschen sprießen. Die Züge im Gesicht verrieten noch, was ihn einst für sie gewonnen hatte. Der Glanz in ihren Augen war noch da.
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