„Aber es sollte wieder noch schlimmer kommen“, sagte Balthasar. „Noch schlimmer – das geht einfach nicht!“ Vitus war nun noch mehr erschrocken. In seinen schlimmsten Träumen konnte er sich nicht vorstellen, was da noch schlimmer hätte kommen können. Er war sich nicht einmal sicher, ob er nicht zu müde war, die Geschichte von Johann Sebastian weiter anzuhören. Vielleicht sollte er besser bis morgen damit warten. Wie sollte denn etwas noch schlimmer werden, als mit neun Jahren die Mama und mit fast zehn Jahren dann auch noch den Papa zu verlieren?“ Aber Vitus war dann doch zu neugierig. „Erzähl’ schnell weiter, Balti.“
Balthasar merkte, wie ihn Vitus nannte. Nämlich nicht Balti-Neum, nicht Balti-Narium und nicht Balti-Notelli – Vitus war nun mitten in der Geschichte. Sie fesselte ihn. „Erzähl’ weiter, bitte jetzt.“ wiederholte Vitus. „Auch das Geld ging der Familie aus, denn da war ja niemand mehr, der musizieren konnte. Da war niemand mehr, der Gehalt bekam oder auf Festen aufspielen konnte. Und so kam es, dass die Stiefmutter von Johann Sebastian schon bald fast kein Frühstück, kein Mittagessen und auch keinerlei Nachtisch mehr für Johann Sebastian und seine Geschwister kaufen konnte. Sie litten beinahe Hunger und schließlich blieb keine andere Möglichkeit mehr, als Johann Sebastian und seinen älteren Bruder zum ältesten Bruder nach Ohrdruf zu schicken.“ „Ist der wichtig?“, fragte Vitus und Balthasar wunderte sich.
„Ist dieser älteste Bruder von Johann Sebastian so wichtig, dass du mir seinen Namen verrätst?“ Offensichtlich erinnerte sich Vitus an Balthasars Hinweis mit den vielen Vornamen und war eigentlich auch ganz froh darüber, dass er sich bis jetzt von diesen supervielen Bachs nur Johann Sebastian, Johann Ambrosius und Veit und Hans merken musste. „Veit und Hans, wer waren die beiden noch einmal? Das habe ich ganz vergessen“, dachte Vitus. „Hans Bach und Veit Bach. Wer war noch mal Veit und wer war noch mal Hans?“, fragte Vitus am Ende der Geschichte, die in der Zeit in Eisenach passierte. „Veit war der Ururgroßvater von Johann Sebastian und Hans, der Spielmann war der Sohn von Veit.“ „Ach ja,“ Vitus wusste, da wäre er selber drauf gekommen, wenn er sich denn mächtig angestrengt hätte. Aber fragen war einfach einfacher. „Wo hat denn der große Bruder, also der älteste große Bruder vom kleinen Johann Sebastian gewohnt? Auch in Eisenbach?“ „Eisenach, Vitus. Eisenach. Dort ist Johann Sebastian geboren. Trotzdem heißt die Stadt nicht Eisenbach. Sondern Eisenach.
Johann Christoph Bach, der älteste Bruder also, der wohnte in Ohrdruf. Das war ganz in der Nähe von Eisenach. Dorthin konnte man an nur einem Tag laufen. Dieser älteste Bruder Johann Christoph hatte bereits eine eigene Familie. Also eine Frau und auch sogar schon einen Sohn. Trotzdem bot er auch seinen beiden kleinen Brüdern ein liebes Zuhause an. Und er sorgte sich um sie – wie ein Vater – in jeder Beziehung.“ „Aus die Maus mit Eisenach“, wurde Vitus schon wieder fröhlicher. Denn Vitus war gerne fröhlich und die Geschichte war ihm an dieser Stelle doch ein großes Stück viel zu traurig. „Dann musste sich der kleine Johann Sebastian ja außerdem auch lauter neue Freunde suchen“, überlegte sich Vitus. „Haben sich denn Johann Sebastian und seine besten Freunde in Eisenach wenigstens ab und zu eine Mail geschickt?“ „Eine Mail? Vitus – eine Mail? E-Mails gibt es erst seit Kurzem! Und ob Johann Sebastian seinen Schulfreunden in Eisenach jemals einen Brief auf Papier geschickt hat ..., das weiß wohl gar niemand mehr. Aber ich glaube das nicht.
Selbstverständlich ging Johann Sebastian ab dieser Zeit in Ohrdruf auch auf eine ganz andere Schule und er musste sich neue Schulkameraden suchen. Und neue Freunde.“ Vitus wusste im Moment ganz und gar nicht, ob er immer noch traurig sein sollte oder ob er sich mehr auf das nächste Kapitel im Leben von Johann Sebastian freuen wollte. „Wird es denn wieder lustiger?“, fragte Vitus vorsichtig. „So traurig, das macht mir nicht so viel Spaß wie das Kapitel davor.“ Auch wenn das alles vor so langer Zeit passiert war: irgendwie berührte es doch das Herz der beiden kleinen Brockengel und irgendwie – waren jetzt beide traurig. „Ja, Vitus, es wird jetzt richtig lustig.“ „Au ja – richtig lustig, das ist gut. Sie haben sicherlich herrlich miteinander gespielt, die drei Bach-Brüder in Ohrdruf. Und sie haben Spaß gehabt und neue Freundschaften geschlossen.“ Balthasar lachte, denn er wusste ja schon, dass der Älteste der Drei zwar Johann Sebastians Bruder war, aber eben kein Kind mehr. „Gespielt – haben die drei Brüder nicht miteinander, Vitus.
Johann Christoph hatte ja schon einen Beruf. Er war viel, viel älter als Johann Sebastian und er musste tagsüber zur Arbeit. Aber – weißt du was – was da in Ohrdruf Tolles passiert ist, das erzähle ich dir morgen. Da habe ich dann auch ausgeschlafen und ich bin frisch. Und wenn ich frisch ausgeschlafen habe, kann ich alles am besten erzählen. Was hältst du davon, wenn du jetzt für mich noch ein wenig tust, was du am besten kannst? Komm’, spiel ein Lied für mich. Von Johann Sebastian. Eines von denen, die du am besten kannst.“ „Was?“, fragte Vitus ein wenig trotzig, „du hörst jetzt einfach auf zu erzählen. Es ist doch noch hell! Ich bin noch kein Stückchen müde“ und Vitus gähnte herzhaft. „Also willst du nichts für mich spielen, wo ich dir doch schon so viel aus dem Leben des aller-allergrößten Musikers der Welt erzählt habe?“ Vitus überlegte kurz, stand auf und setzte sich dann an seine kleine Orgel, ganz an der linken Seite seiner kleinen Barockengel-Wolke. „Ist es nicht spannend, wie viele kleine Instrumente auf einer winzigen Barockengel-Wolke Platz haben?“, fragte Vitus und grinste schon wieder.
Vitus hatte ruckzuck vergessen, dass er sich gerade noch darüber beschwert hatte, dass die Geschichte für heute nun schon zu Ende war. „Dann wollen wir aber nach meinem Musizieren ganz schnell schlafen. Denn je schneller wir schlafen, desto schneller sind wir fertig mit Schlafen. Und wenn wir fertig sind mit dem Schlafen, dann kannst du weiter erzählen, Balthasar. Was denn in Ohrdruf so spannend gewesen ist. Hat es denn auch mit Musik zu tun?“ Balthasar nickte nur, grinste über beide Barockengel-Bäckchen und machte es sich auf seiner Wolke kuschelig. Ganz weit weg, am Horizont, war inzwischen die Sonne untergegangen und über ihnen färbten sich die ersten hohen Wolken rosa und schließlich in ein ganz kräftiges Rot. Vitus hatte mit seiner Musik begonnen und es klang – ganz einfach himmlisch. „Wie kann ein Mensch nur solche Musik erfinden: Sie dichten, sie setzen, sie komponieren? Vielleicht war es tatsächlich der liebe Gott, der Johann Sebastian Bach dieses Können geschenkt hat.“ dachte Balthasar laut nach. Er schaute in den Himmel, während er diesen wunderschönen Tönen zuhörte.
Der Himmel wurde auf der einen Seite schon richtig dunkelblau und Balthasar konnte ganz zart den Mond erkennen. Etwas später begannen die ersten Sterne zu funkeln. Vitus spielte und spielte und schließlich, als er das Stück zum vierten Mal gespielt hatte, war alles so schön, dass Balthasar einfach die Augen zufielen und er in einen tiefen, ruhigen Schlaf fiel. Er merkte überhaupt nicht, wie Vitus zu seinem besten Freund hinüber schaute und sah, dass der schon mit einem ganz verschmitzten Lächeln auf seiner kleinen Barockengel-Wolke schlief. Noch einmal spielte Vitus das Stück vom großen Johann Sebastian. Natürlich spielte er es jetzt ganz, ganz leise. Balthasar schlief inzwischen immer tiefer. Er träumte, dass diese wunderschöne Musik immer leiser wurde, bis sie schließlich ganz verstummte. Vitus hatte das Stück zu Ende gespielt, sich auch hingelegt und war ganz fix eingeschlafen. Bald schliefen beide tief und fest. Viele, eigentlich sehr, sehr viele Sterne wachten am Himmel und beide träumten von der Zeit, als Johann Sebastian so viel Spaß daran hatte, mit seinem Papa zusammen Geld zu verdienen. Mit Musik machen. In Eisenach. Auf so vielen Festen und Hochzeiten.
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