Balthasar musste nachdenken. Nicht darüber, ob ein Teil der Geschichte geschwindelt ist. Sondern darüber, wie er es Vitus am besten erklärte. „Schau, Vitus, ein Märchen ist eine Erzählung, die nicht wirklich wahr ist. Da gibt es Zauberer und Feen und Trolle. Oder Hexen, die aber auch nicht immer böse sind.“ Balthasar gab sich große Mühe, dass Vitus keinen Schreck bekam. Weil er doch von Hexen erzählte und von Zauberern und von Feen. Drachen erwähnte er aus gutem Grunde nicht. „Ich bin doch ein kleiner Barockengel, der Geschichten erzählt – und Geschichten sind keine Märchen. Meistens. Geschichten sind meist das, was einmal passiert ist. Vor langer, sehr langer, eigentlich ganz langer Zeit. Oft sind es viele, viele, viele Jahre. Und die Geschichte von Johann Sebastian Bach – sie ist zur einen Hälfte über 300 Jahre alt, zur anderen über 250 – ist wahr.“
Balthasar hörte sich selber diese eigenartige Beschreibung sagen. Und natürlich wurde auch Vitus hellhörig. „Wie geht denn das?“ „Nun ja“, meinte da Balthasar, „Johann Sebastian Bach wurde vor mehr als 300 Jahren geboren und lebte bis vor mehr als 250 Jahren.“ Es klang nicht sehr überzeugend. Und Vitus konnte dem auch nicht so ganz folgen. „Die Geschichte von Johann Sebastian ist also vor sehr, sehr langer Zeit so passiert, wie ich sie dir jetzt erzählen werde. Damit es wirklich spannend wird, habe ich persönlich ...“ – Balthasar setzte sich ganz aufrecht hin – „… es noch sehr, sehr viel spannender gemacht“, sagte er feierlich. „Das habe ich gelernt. Deswegen bin ich ja ein kleiner Barockengel, der sich aufs Geschichtenerzählen versteht.“ „Und ich bin ein kleiner Barockengel, der gut Musik machen kann“, sagte Vitus, obwohl das ja gar nicht hierhergehörte. „Alles Wichtige“, fuhr Balthasar fort, „ist wirklich vor ganz langer Zeit so passiert. Aber damit es richtig Spaß macht, zu hören, was alles passiert ist, genau deswegen habe ich es hier und da ein klein wenig spannender gemacht.“
Balthasar wurde nun etwas ungeduldig. Er wollte gerne anfangen zu erzählen. Aber Vitus hatte eben eine Frage nach der anderen. Allerdings – genau jetzt, in diesem Moment, als Balthasar die nächste Frage erwartete – hatte Vitus keine Frage mehr. Und er sah Balthasar erwartungsvoll an.
Balthasar holte Luft. Eigentlich holte er tief Luft, sehr tief: „Es war einmal ...“ „aber so beginnen Märchen“, prustete Vitus los. Doch er bemerkte, dass Balthasar leicht gereizt und sogar ein klein wenig ärgerlich schaute. „So beginnen aber auch wahre Geschichten“, fuhr Balthasar fort. „Also – es war einmal – lange, lange Zeit, bevor Johann Sebastian Bach lebte, ein kleiner Ort in Thüringen. Thüringen liegt in der Mitte von Deutschland und dann rechts“, ergänzte Balthasar. „Dieser kleine, gemütliche Ort war Wechmar und die wunderschöne, größere Stadt, gleich in der Nachbarschaft, hieß Gotha. Das ist eine lange, lange Zeit her – es sind sogar über 400 Jahre. Und natürlich heißen beide Orte auch heute noch so.
Damals war das Leben viel, viel härter und Menschen mussten oft ihre Heimat verlassen, weil Krieg herrschte. Und auch, weil es verschiedene Religionen gab. Und immer vertrieben die Stärkeren die Schwächeren aus ihrer Heimat.“ „Verstehe ich nicht“, murmelte Vitus, der aufmerksam zuhörte. „Warum vertreiben die Stärkeren die Schwächeren?“ „Das, Vitus, ist jetzt zu schwierig zu erklären“, schüttelte Balthasar den Kopf. „Und das ist jetzt auch nicht so wichtig. Wenn wir beide größer sind, dann verstehen wir das besser. Ich ... weiß es eigentlich nämlich auch nicht.
Auf jeden Fall ist kurz vor dem Jahre 1600, vielleicht war es auch ein paar Jahre früher oder später, der Ururgroßvater des berühmten Musikers in dieses kleine Dorf Wechmar bei Gotha in Thüringen gezogen.“ „Das klingt aber lustig, diese Uren vor dem Opa. Das habe ich ja noch nie gehört. War der denn über 100 Jahre alt? Dieser Johann Sebastian und wie heißt er noch?“ „Bach“, sagte Balthasar. „Oder war er gar 150 oder sogar 200 Jahre alt?“ setzte Vitus nach.
„Vitus“, ermahnte ihn Balthasar. Der Ururopa von Johann Sebastian und Johann Sebastian kannten sich nicht. Natürlich ist der Ururopa gestorben, lange bevor Johann Sebastian zur Welt kam. 1619 war das. 1619 ist er gestorben. In Wechmar. Aber vorher war er in Wechmar Bäcker. Ein Bäcker war er auch schon dort, von wo er fliehen musste. Wegen seiner Religion.“ „Und wo lebte er vorher?“ warf Vitus ein und wie überhaupt heißt der Opa von Johann Sebastian?“ „In Ungarn“, antwortete Balthasar wie aus der Pistole geschossen zur ersten Frage. „Und es war nicht der Opa von Johann Sebastian, sondern der Ururopa.“ „Meine ich doch. Und wie hieß der?“
„Veit hat er geheißen.“ „Veit?“, fragte Vitus ungläubig. „Das klingt aber mal ähnlich wie mein Name“, sagte er versonnen. „Okay, Veit Bach also, er hieß doch auch Bach, richtig?“ Vitus war ganz bei der Sache. „Und er war ein Bäcker, sagst du?“ „Ja, er arbeitete in einer Mühle in Wechmar. Und nicht nur er, sondern mit ihm lebte auch noch ein Hans Bach. Das war der Sohn von Veit“. Vitus lachte ein wenig, aber plötzlich schüttete er sich aus vor Lachen. „Dann kann man ja eine Ur streichen, wenn das der Sohn von Veit war. Dann war der Hans ja der Uropa von Johann Sebastian. Hat er den denn gekannt?“ „Nein“, sagte Balthasar mit einem vergnüglichen Lächeln. „Das ist immer noch zu weit in der Vergangenheit. Der Sohn von diesem Hans hieß übrigens Christoph. Aber lass’ uns weitermachen mit der Geschichte.
Veit also, und das erzählte Johann Sebastian nun selber, war demnach der Erste, der in der Bach-Familie Musik gemacht hat. Also genau genommen, nicht der Erste, sondern sogar der Allererste. Als Veit das Korn in der Mühle mahlte, spielte er auf einer Zither. Damals hatte man ja für viele Dinge andere Namen gehabt und so hieß diese Zither zu dieser Zeit Cythringen. Und dieses Cythringen war auch ein ganz klein wenig anders als eine Zither heute. Johann Sebastian erzählte, Veit konnte gut zum Takt der Mühle spielen. Denn geklappert hat es ja immer, und wenn das Wasser so schön gleichmäßig über das Wasserrad floss, dann hörte sich das zu einer Melodie eben besonders schön an.
Und weil der Papa von Hans so schön spielte, hatte der eben auch seinen Spaß dran und machte ebenfalls gerne Musik. Und so wurde dieser Hans der zweite Musikant in der Familie. Und musizieren, das konnte er gut. Richtig gut. So gut, dass ihn die Leute im Dorf Hans, der Spielmann nannten.“ „Wo genau lebten denn die beiden, bevor sie nach Wechmar kamen?“, fragte Vitus. Balthasar entgegnete: „Da ist man sich gar nicht so ganz sicher. Das weiß ich nicht, niemand weiß das. Wo genau in Ungarn, darüber haben schon viele Forscher gerätselt. Und sie tun das heute noch.“
Vitus wurde ein wenig ungeduldig auf seiner Wolke und setzte sich in den Schneidersitz. „Kommt noch mehr über die Opas von Johann Sebastian? Oder kommt er jetzt in der Geschichte vor?“ „Warte doch einen Moment. Sei nicht so ungeduldig“, ermahnte ihn Balthasar, aber ganz und gar herzlich. „Es ist wichtig, weil dieser Ururopa der Grund ist, dass aus Johann Sebastian ein so toller Musiker geworden ist. Und wenn du noch ein klein wenig Geduld hast, dann kommt auch schon bald die Geschichte mit dem Zippelfagottist. Und auch die, als Johann Sebastian ins Gefängnis musste und auch die, als der junge Johann Sebastian seinen Degen gezogen hat. Aber zuerst – müssen wir am Anfang beginnen. Sonst – ist ja alles durcheinander!
Also, wo waren wir? Ach ja, Hans der Spielmann. So nannten sie den Sohn von Veit in Wechmar. Selbstverständlich hatte auch er Kinder, aber von denen erzähle ich dir ein anderes Mal. Wichtig ist nur: Natürlich haben auch die Kinder von Hans Musik gemacht. Und die Onkel und Tanten und Neffen und Cousins von ihnen musizierten ebenfalls. So viele Kinder, Enkel und Urenkel und dazu auch noch Urururenkel von Veit Bach machten Musik, dass diese Bachs bis heute die größte und berühmteste Musikerfamilie der Welt sind.
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