„Zumindest liegt aber keine Anzeige vor, wir wollen uns ja keinen unnötigen Bürokram aufladen – stimmt‘s?“, sagte Marina und grinste.
„Hier Einsatzzentrale an Keller und Adler“, war plötzlich eine rauschende Stimme aus dem Funkgerät zu hören.
„Hier Adler, was gibt’s?“
„Die forensische Psychiatrie Münsterlingen hat uns eben gemeldet, dass die Unbekannte von der Kartause vernehmbar wäre. Könnt ihr nach Münsterlingen fahren?“
„Verstanden. Wir sind in etwa 30 Minuten vor Ort.“
„Also los Marina, du hast es gehört. Auf nach Münsterlingen. Bin wirklich gespannt, was uns dort erwartet.“ Minuten später waren Frauenfeld und die Auffahrt zur A7 erreicht. Kurz darauf lenkte Marina den Wagen über die Autobahn in Richtung Kreuzlingen.
„Du kennst die Blitzer da vorne. Mach unserer Bussenabteilung keine unnötige Arbeit.“ Sie rauschten der Ausfahrt Ost entgegen.
„Nimm bei Kreuzlingen die Ausfahrt zur Brunnenstraße. Dann sind wir auf der Romanshornerstraße schnell durch die Stadt. Auf der Seestraße ist es dann nicht mehr weit.“
„Okay“, bestätigte Marina und verließ kurz darauf die A7.
„Weißt du, auf welcher Station wir sie finden?“
„Forensische Psychiatrie C2. Auf P5 können wir parkieren.“
„Das mittlere Gebäude müsste es sein.“ Alexander stieß die Wagentüre zu.
„Ehrlich gesagt, hab ich immer ein beklemmendes Gefühl auf einem Psychiatrieareal“, stöhnte Marina.
„Das geht mir ähnlich. Ich kann es aber recht gut wegstecken. Wahrscheinlich bin ich auch schon zu lange in dem Verein“, Alexander grinste.
„Aber die Aussicht auf den See ist toll“, schwärmte Marina.
Kurz darauf hatten sie die geschlossenen Sicherheitsbereiche des Gebäudes hinter sich gelassen.
„Guten Tag. Hell ist mein Name. Ich bin der Leiter der Abteilung. Sie sind von der Kapo Frauenfeld?“
„Korrekt, Adler und meine Kollegin Keller.“
„Wir haben Sie bereits erwartet! Kennen Sie sich aus in unserem Gebäude?“, kam der sympathische Leiter gleich zur Sache. Offensichtlich war er ein unkonventioneller Typ, unkompliziert und nicht so genormt. In der Knopfreihe seines weißen Hemdes steckte ein brauner Füllfederhalter. Die Ärmel waren hochgekrempelt und die mittellangen braunen Haare zu einem kurzen Pferdeschweif zusammengebunden.
„Nicht unbedingt. Ich bin eher selten auf dem Areal. Meiner Kollegin geht es wohl ebenso.“ Sie versuchten, mit dem Vorausgehenden Schritt zu halten. Rhythmisch erschallten ihre schnellen Schritte durch die langen Flure. Vereinzelte Blumengestecke und Grünpflanzen verliehen der Trostlosigkeit der Klinik eine angenehmere Atmosphäre. Ein Gefühl der Beklemmung durchfuhr Marina. Mit einem langen Atemzug verschaffte sie sich Erleichterung.
„Wir versuchen für unsere Patienten ein möglichst angenehmes Klima zu schaffen“, quittierte der Stationsleiter ihre kritischen Blicke.
„Sie sind sehr aufmerksam. Sieht man mir die Beklemmung an?“, Marina lachte verlegen.
„Es gehört zu meinem Beruf, die Zeichen und Signale der Menschen richtig einzuschätzen und zu deuten.“ Er schickte ihr ein verschmitztes und geheimnisvolles Lächeln.
„Ich würde Sie gerne über den Stand informieren“, blieb Hell kurz beim Stationsbüro stehen.
„Gerne – besten Dank.“
„Wir haben mit der Klientin eine erste Eingangsuntersuchung gemacht. Leider sind wir noch nicht sehr viel weiter gekommen. Wir kennen nicht einmal ihren Namen“, er blätterte in einem Dossier.
„Was heißt das genau?“, interessierte sich Marina.
„Kurz gesagt. Ich denke, sie hat schlicht und einfach Angst. Man merkt es ihr nicht an, aber sie fürchtet sich vor ihrer Umgebung.“
„Wie kommen Sie darauf, Herr Hell?“
„Es wurden bisher forensische Basisabklärungen mittels evaluierter klinischer Methoden und Prognoseinstrumenten durchgeführt. Wie bereits erklärt, sind wir jedoch offen gesagt keinen Schritt weiter gekommen. Sie ist wirklich ein außergewöhnlicher Fall“, äußerte sich der Stationsleiter etwas verlegen.
„Außergewöhnlich?“, forderte ihn Marina mit einem fragenden Blick zu einer genauen Erklärung auf.
„Ja außergewöhnlich. Sie zeigt eigentlich keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung. Ich kann mich in meiner Laufbahn an keinen vergleichbaren Fall erinnern“, wurde Hell nachdenklich und warf einen Blick auf seine Uhr.
„Ihre Sprache und die mittelalterliche Ausdrucksweise lassen jedoch noch eine andere Möglichkeit offen. Sie ist jedoch etwas ausgefallen.“
„... das bedeutet?“
„Haben Sie beide schon einmal etwas von dem Fremdsprachen-Akzent-Syndrom gehört?“
„Noch nie!“, die beiden Beamten blickten sich ratlos an.
„Man spricht auch vom sogenannten ‚foreign accent syndrom‘, oder kurz FAS.“
„Wir sind keine Mediziner. Was hat das mit der Patientin zu tun?“
„Das FAS ist eine sehr seltene neurologische Störung, die nach einem Schlaganfall oder nach einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten kann. Die Erkrankung äußert sich in einer Änderung der Sprachmelodie, der Aussprache oder der Wortwahl des Patienten. Von der Umwelt werden diese Veränderungen als plötzliche Fremdsprache interpretiert. Von einer Norwegerin ist beispielsweise bekannt, dass sie nach einer Schädelverletzung mit einem deutschen Akzent sprach. Angeblich spricht eine Patientin aus Thüringen nach ihrem dritten Schlaganfall seit Jahren nur noch mit einem Schweizer Akzent. In einem weiteren Fall sprach eine Engländerin nach einem starken Migräne-Anfall nur noch mit einem französischen Akzent. Ich möchte damit sagen, es ist durchaus möglich, dass wir im vorliegenden Fall eine Patientin mit FAS haben.“
„Das würde also bedeutet, dass ihre mittelalterliche Ausdrucksweise auf ein medizinisches Problem schließen könnte?“
„So ist es, Frau Keller. Mit Betonung auf ‚könnte‘. Ohne klaren Befund ist es aber schwierig festzustellen. Vielleicht existiert sogar irgendwo eine Krankenakte. Ohne ihre Identität können wir natürlich keine Nachforschungen anstellen.“
„Klingt verrückt, aber nach einer plausiblen Antwort“, fügte Alexander an.
„Konnte sie zumindest irgendwelche Auskünfte über ihre Herkunft oder über das Kind geben?“
„Das ist das Problem, Herr Adler. Sie spricht nicht darüber. Das heißt, eigentlich nur das Notwendigste. Aber abgesehen von einigen Mangelerscheinungen infolge einer Unterernährung ist die Patientin in einer sehr guten körperlichen Verfassung. Sie schweigt zu allen unseren Fragen, lacht jedoch gelegentlich.“
„... und dennoch diagnostizieren Sie ihr keine psychische Störung, obschon sie nicht mal ihren Namen nennt?“
„Als Polizistin ist das für Sie wohl ungewöhnlich.“
„Ehrlich gesagt, eigentlich schon.“
„Schweigen ist aber nicht verboten, Frau Keller“, Hell lachte. „Ich spreche natürlich von schwerwiegenden Verhaltensstörungen und Auffälligkeiten. Selbst ihre körperlichen Reaktionen sind eigentlich völlig normal“, fuhr Hell weiter fort. „Sie können gerne einen Blick in den Untersuchungsbericht der Klientin werfen. Bedenken Sie jedoch bitte das Recht der Klientin auf Persönlichkeitsschutz. Wie Sie vielleicht wissen, werden bei den Ausdrucksstörungen vor allem das äußere Erscheinungsbild und das soziale und situative Verhalten der Klientin untersucht. Der Untersucher kann hier die Psychomotorik und den Antrieb, die Mimik, den sprachlichen Ausdruck und das Sprechverhalten beschreiben. Im weiteren Sinne beobachtbare Veränderungen, betreffend der Bewusstseinslage der Patientin“, reichte er das Dossier an Alexander weiter.
„Warum sprechen Sie einerseits von der Patientin und dann wieder Klientin. Gibt es einen Grund dafür?“
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