1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 „Können Sie sich eigentlich an mich erinnern, Judith? Wir haben uns bereits zweimal in der Nähe der Ruine Hälfenberg getroffen.“
„Ja, edler Herr, ich erinnere mich gut. Ersteres war beim Burgstall am Hasensee. Ich war mit dem Sammeln von edlen Heilkroidtern beschäftigt. Zweites auf einer kleinen Holzbank unter einem wundervollen Nussbaum. Es war ein sonniger Tag“, erstaunte sie ihn mit ihrer klaren Antwort. Selten fühlte sich Alexander so nahe mit einem Menschen verbunden. Eingenommen von ihrem außergewöhnlich starken Wesen und ihren braunen Augen, hätte er gerne jegliche Regeln und Normen vergessen und ihr mit seiner Hand sanft über das Gesicht gestreichelt.
'Was geschieht hier mit mir - verdammt'?
„Ihr werdet mich doch wegen der stibitzten Petersilie nicht vor das Niedergericht bringen, hehrer Recke?“, sie lächelte ihn an.
„Es war mir schwer zu widerstehen. Petersilie ist in unseren Gefilden zwischen Stammheim und Hüttwilen nur mit arger Mühsal zu bekommen. Herr Alexander, wo seid Ihr mit Euren Sinnen?“
„Nein, natürlich nicht. Die rohen Sitten des Mittelalters sind vorbei“, riss sie ihn mit ihrer Frage aus seinen Gedanken.
„Sie scheinen aber zumindest die Mode jener Zeit sehr zu mögen“, bemühte er sich, den verlorenen roten Faden des begonnenen Gespräches wiederzufinden.
„Ihr wohnet unweit des Burgstalls?“, lenkte sie geschickt von einer Antwort ab.
„Ja ganz in der Nähe. In Nussbaumen, um genau zu sein“, sagte er erleichtert, um auf ihren Themenwechsel einzugehen. Schweigend wandte sie sich von Alexander ab, um ihre Blicke wieder hinaus auf den See und auf die weit entfernten Boote zu lenken.
„Ich mag den Frühling, wenn die ersten Blumen die Erde verlassen und die Wiesen in allen Farben leuchten. Schauet nur diese Pracht und die Birken an den Gestaden. Sind sie nicht wunderbar?“
„Ja, das ist es tatsächlich. Es ist ein schöner Anblick und sehr wohltuend, wenn nach dem Winter die ersten Schneeglöckchen, Krokusse und Schlüsselblumen als Frühlingsboten wachsen.“
„Ja, die Schlüsselblumen. Sie haben ein so leuchtendes Gelb und duften so wundervoll unweit unseres Gehöfts“, strich sie über die Blume an ihrem Handgelenk.
„Eure Kate steht in Nussbaumen, werter Alexander? Oder lebet Ihr auf einem Hubengut? Dann sind wir in gewisser Weise fast schon Nachbarn“, sie lächelte.
„Das haben Sie vor einigen Tagen bereits einmal angedeutet. Wo sind Sie denn zuhause“, versuchte er erneut eine klare Antwort über ihre Herkunft zu erhalten. Auf keinen Fall wollte er sich ihr Vertrauen verspielen. Sie war sehr feinfühlig und ließ ihn dies auch spüren. Offensichtlich gab es jedoch ihrerseits gute Gründe, von ihrer Herkunft abzulenken. Sie war sichtlich bemüht, nicht über sich selbst zu sprechen, und sie verstand es perfekt, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken und das Gegenüber in den Mit telpunkt zu stellen. Sehr schnell war Alexander diese Fähigkeit aufgefallen.
„Hören Sie, Frau von Hälfenberg - Entschuldigung, Judith. Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, das müssen Sie mir glauben. Als Polizist ist es aber eine meiner Aufgaben, in dieser außergewöhnlichen Situation Ihre Identität zu klären. Wer sind Sie und woher kommen Sie? Wie sind Sie in die Büroräume der Kartause gelangt? Es ist mein Beruf, diese Fragen zu klären.“
„Die Zeiten sind unser Zuhause, werter Herr. Es gibt so vieles, das wir mit unserem Augenlicht nicht gewahr werden und dennoch ist es vorhanden, unberührbar und doch so nah, denket Ihr nicht auch?“
„Unsere fünf Sinne sind tatsächlich sehr beschränkt. Das ist für uns Menschen sicherlich ein großer Nachteil. Da haben Sie Recht, Judith.“
„Sieben Sinne, es sind deren sieben – edler Herr, nicht fünf!“, sie drehte sich mit einem Lächeln in seine Richtung.
„Sieben - wie kommen Sie darauf, dass es sieben sind? Sie erstaunen mich.“
„Meine Großmutter war eine wissende Frau“, blieb die Fremde weiterhin geheimnisvoll.
„Diese Erkenntnis der sieben Sinne ist eigentlich nicht weit verbreitet. Sogar die Psychologie ist sich da nicht einig. Haben Sie studiert?“
„Studiert?“, reagierte Judith sichtlich derangiert auf die Frage.
„Waren Sie an einer Universität? Sie sprechen von sieben Sinnen. Ich nehme an, Sie befassen sich mit der menschlichen Psyche oder mit unserem Bewusstsein. Wo haben Sie studiert?“
„Ich lernete fleißig bei unserem Dorflehrer in Stammheim, wenn Ihr meine Gelehrigkeit meinet.“
„Und Sie haben dieses Wissen von ihm erhalten? Er muss ein sehr gebildeter Mann sein. Ich kenne wenige Menschen, die sich eingehend und tiefgründig damit beschäftigen und ebenfalls die Ansicht vertreten, dass der Mensch über sieben Sinne verfügt; zum Einen das Empfangen mit dem Bewusstsein und das Erfühlen mit unserer Psyche.“
„So ist es, edler Herr“, wandte sie sich nachdenklich ab.
„Wohin habet Ihr das verstorbene Kindelein gebracht“, unterbrach sie plötzlich ihr kurzes Schweigen.
„Es ist noch im gerichtsmedizinischen Institut“, bemühte er sich um eine schonende Antwort.
„Sie sagten ‚DAS‘ Kindelein, nicht ‚MEIN‘ Kind? Sind Sie denn nicht dessen Mutter?“
„Mitnichten, mein Herr. Eine andere Frouwe war ihm die leibliche Mutter. Ich war ihm in Liebesstatt die Wase.“
„Haben Sie die Mutter gekannt? Wissen Sie, wer sie ist oder wo wir sie finden?“
„Sie ist mir sehr wohl bekannt“, begann Judith mit leiser und besinnlicher Stimme zu sprechen.
„Ihr Name ist Agnes, Agnes Kantengiesser. Sie ist mir eine edle Schwester“, sie strich sich eine Träne aus den Augen.
„Wollen Sie mit mir darüber sprechen, was geschehen ist?“, Alexander griff nach einem Papiertaschentuch.
„Sie wurde das Opfer von Niedertracht und Lasterhaftigkeit eines Geistlichen“, wandte sich Judith ab und wischte sich mit dem Tuch die Augen.
„Werdet Ihr mir bitte helfen, in die Kartause zurück zu gelangen, mein Herr?“, sie blickte ihn mit traurigen und bettelnden Augen an.
„Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um Ihnen zu helfen, Judith. Wir wissen jedoch nicht, wer Sie sind und woher Sie kommen. Aus diesem Grund sind Sie hier. Es müssen zuerst polizeiliche Abklärungen getroffen werden. Ich bitte Sie, das zu verstehen. Man wird Sie nicht einfach gehen lassen, ohne genau zu wissen, was geschehen ist.“
„Aus welchem Grund werde ich in diesem Karzer festgehalten? Niemand hat durch mich eine Last erfahren. Das arme Kindelein“, sie wischte sich abermals eine Träne aus dem Gesicht.
„Es bestand aus polizeilicher Sicht bis anhin der dringende Verdacht, dass Sie etwas mit dem Tod des Kindes zu tun haben, Judith. Ich bin erleichtert, dass sich dieser Verdacht nicht bestätigt hat. Es starb tatsächlich an einer Krankheit.“
„Die Rachenbräune hinterlässt viele unglückliche und trauernde Mütter, werter Herr.“
„Rachenbräune?“, Alexander blickte sich etwas verwundert nach dem Stationsleiter um. Mit einer Geste der Verwunderung signalisierte ihm dieser seine Ratlosigkeit.
„Sie werden leider auch des Diebstahls von Kleidern verdächtigt, Judith. Können Sie mir zumindest diesbezüglich weiterhelfen?“
„Das niedere Gericht wird mich für diese unrechte kleine Dieberei bestrafen, mein Herr. Werdet Ihr mir dennoch helfen, diese ungemächliche Stätte zu verlassen?“, flehte sie ihn sehnlichst an.
„Lasset mich nach Hause. Meine Mutter wird sich zu Tode ängstigen. Habet Huld mit mir, diesen Kerker zu verlassen“, sie hielt Alexander mit festem Griff an seinem Arm.
„Es fürchtet mich sehr an diesem Ort, edler Herr“, sie blickte in seine Augen.
'Keine Minute länger möchte ich selber hier verbringen. Ich bin schon froh, wenn ich hier später wieder rauskomme. Sie tut mir echt leid und ich hab keinerlei Möglichkeit, sie rauszuholen', erfühlte Alexander hilflos ihre große Not.
Читать дальше