„Der Gassmann von der Pathologie schreibt, dass in der Schweiz der letzte Fall von Rachen-Diphtherie im Jahr 1983 aufgetreten sei. Das ist rund 30 Jahre her“, wandte der Kollege Hürzeler ein.
„Okay, das habe ich ja bisher verstanden. Das ist aber nicht das Problem. Wir haben ein 500 Jahre altes Gewebe, in dem das Kind eingewickelt war. Zumindest schreiben das die Forensiker“, suchte Kommandant Ramseier nach einer Antwort.
„Was machen wir mit einem solchen Befund, Leute? Wir sind Kriminologen - keine Archäologen“, kritisierte Hürzeler.
„Die werden wohl ihren Hochfeldtomographen etwas kalibrieren müssen“, scherzte Sutter.
„Halten wir uns doch an die Fakten“, bat Alexander die Anwesenden um Aufmerksamkeit.
„Wer kam eigentlich auf die Idee der C14-Bestimmung – und warum?“, warf Hürzeler plötzlich in die Runde. Schweigend blickten sich die Kriminalbeamten an.
„Gute Frage. Wer hat das eigentlich veranlasst?“
„Das war ich“, meldete sich Kommandant Ramseier überraschend zu Wort.
"Ehrlich gesagt, hat mich ein Gespräch mit Sibylle Fahrner, unserer Sekretärin, auf diese Spur gebracht. Ihre Cousine und Archäologin Regula Breitschmied hat den eigentlichen Anlass dazu gegeben“, erklärte er weiter.
„Ist das nicht etwas unkonventionell, gleich eine C14-Untersuchung einzuleiten, Chef? Irgendwie haben wir es doch einfach nur mit einer verwirrten Psychopatin zu tun. Mittelalteranlässe sind in unserer Zeit modern. Daskannst du alles im Internet bestellen.“
„Ehrlich gesagt, habe ich mir das am Anfang auch gedacht. Die Archäologin hat mich aber extra in meinem Büro aufgesucht und auf ein paar höchst interessante Details in dem Gewebe hingewiesen.“
„Woher wusste die Breitschmied überhaupt von dem Gewebe?“
„Das habe ich mich auch gefragt. Davon ist ja nichts in der Öffentlichkeit publiziert worden. Offensichtlich hat sie aber mehrere Studienkollegen in unserer Pathologie. Das Ergebnis hat mich aber, ehrlich gesagt, überrascht.“ Ramseier erhob sich.
„Ist eigentlich auch die Kleidung der Mutter dahingehend untersucht worden?“, interessierte sich Alexander.
„Meines Wissens nicht“, mischte sich Marina in die Ratlosigkeit.
„Das müsste doch eigentlich nachgeholt werden. Auf dieses Ergebnis wäre ich äußerst gespannt“, fügte Alexander an.
„Kannst du das in die Wege leiten, Marina?“, bat Ramseier.
„Klar Rolf. Ich werde gleich einen Kollegen von der Spurensicherung nach Münsterlingen schicken. Die sollen die Kleider ins Labor bringen.“
„Also dann, alle an die Arbeit – danke. Alexander und Marina, ihr bleibt dran, okay!“ Ramseier schickte seine Leute los.
„Du musst deine Aussage noch zu Protokoll geben, Alexander“, wies ihn Marina an, nahm einen letzten Schluck von ihrem kalten Kaffee und startete das Schreibprogramm.
„Stimmt, das haben wir noch gar nicht erledigt – Okay, dann lass mich überlegen ...
“ Alexander setzte sich neben einen mächtigen Ficus Benjaminus.
„Wann hast du sie das erste Mal gesehen?“, startete Marina die Befragung.
„Das war vor rund zwei Wochen in der Nähe vom Hasensee.“ Er begann in Gedanken die Fakten zu sortieren und zupfte an einem Blatt. „Sie ist mir durch ihr eigenartiges Verhalten aufgefallen. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht Hilfe benötigt. Ich weiß noch, dass sie mich mit ihrer weißen Kopfbedeckung an das Mittelalterfest vom Schloss Wellenberg erinnerte.“
„Du interessierst dich für Mittelaltermärkte, Alexander?
„Meine Partnerin mag die Welt der Burgen und Schlösser. Wir gehen ganz gerne zu den Open-Air-Konzerten auf der Ruine Hälfenberg.“
„Wie bringst du das in Zusammenhang mit der Unbekannten aus der Kartause?“
„Weil ich daher zufällig weiß, dass der Handwerkermarkt auf Wellenberg dieses Jahr am 24. und 25. Mai stattfindet. Das ist also erst in rund einer Woche. Das bedeutet, dass ihre Mittelalterkleidung nicht mit dem Fest im Zusammenhang stehen konnte.“
„Okay - erzähl weiter“, bat ihn Marina fortzufahren.
„Das erste Mal ist sie mir am 27.4. dieses Jahres aufgefallen.“
„Woher weißt du aber mit dieser Bestimmtheit, dass es der 27. April war“, unterbrach ihn Marina.
„Das weiß ich daher so genau, weil ich am selben Tag zum Geburtstag meines Bruders gefahren bin. Es war an einem Sonntagvormittag. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, vorher zum Hasensee zu joggen.“
„... also von Nussbaumen bis zum Hasensee“, fuhr Marina fort, seine Aussage in den Computer zu tippen, griff zur Kaffeetasse, warf einen enttäuschten Blick hinein und stellte sie zurück auf das Pult. „Ist das nicht eine ganz ansehnliche Strecke? Wow! Okay, du bist ja ziemlich gut trainiert“, sagte sie und feixte.
„Die wärmende Sonne im Gesicht und die Klänge von Lindisfarne in den Ohren, genoss ich den Moment der Freiheit und der Sorglosigkeit“, begann er etwas weitschweifig mit seiner Schilderung. „Mein Atem ging schnell und meine Muskeln vibrierten mit jedem Schlag auf meinen Fußsohlen. Steinchen spien unter meinen Schuhen davon und verschwanden im Gras. Zum Glück ist die Asphaltstrecke nur so kurz, ich hatte in schnellem Tempo in Nussbaumen die Soldatengasse hinter mich gebracht, bog kurz nach links und überquerte die Hüttwilerstraße. Bei der Postauto-Haltestelle Tobelbrunnen verließ ich die Hauptstraße, um auf dem Feldweg und an der Grüngut-Sammelstelle vorbei zum Hüttwilersee zu laufen. Die Kieselsteine knirschten unter meinem schnellen Lauf. Kurz darauf überquerte ich die kleine Brücke über den Seebach in Richtung Hälfenberg. Bei den beiden Bauernhöfen angekommen, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, den Feldweg parallel zum Hasensee in Richtung Nussbaumersee einzuschlagen. Einige Hundert Meter nach den Höfen führt rechts ein Feldweg direkt zum Hasensee. Auf der Höhe des oberen Stegs entschloss ich mich, eine erste Pause einzulegen.“ Aufmerksam schrieb Marina die wichtigsten Fakten in das Protokoll.
„Schnaufend stütze ich mich in gebeugter Haltung auf meine Knie, um etwas auszuruhen. Das Blut schoss durch meinen Körper und der Puls raste“, fuhr er mit seiner Aussage fort.
„Langsamen Schrittes ging ich weiter. Unerwartet huschte eine dunkle Gestalt hinter den Bäumen durch das Unterholz. Offensichtlich war sie bemüht, sich zu verbergen. Reglos blieb sie hinter einem größeren Baum stehen. Angetrieben von meiner polizeilichen Neugier, ging ich langsam in Richtung des Seeufers. Die Situation schien dennoch entspannt. Umsichtig lief ich zwischen die Bäume über den schmalen Trampelpfad und betrat den hölzernen Steg. Eindrücklich spiegelten sich der blaue Himmel und die dahinziehenden Wolken auf der glasklaren Wasseroberfläche. Die alten Holzbohlen des Stegs knarrten unter meinen Schritten. Das Rascheln des Laubes und das Knistern des morschen Gehölzes waren mir im Hintergrund nicht verborgen geblieben, ich bin es gewohnt, meine Aufmerksamkeit auch auf das Unscheinbare zu lenken. Beiläufig drehte ich mich wieder um und schlenderte zurück ans Ufer. Längst hatte ich die unbekannte Gestalt in meine Aufmerksamkeit genommen und aus dem Augenwinkel heraus beobachtet. Noch immer versuchte sie, sich vor mir verborgen zu halten.
‚Guten Morgen, entschuldigen Sie, kann ich Ihnen helfen‘, rief ich freundlich ins Unterholz.
‚Seid bedankt, edler Recke. Das ist nicht von Nöten.‘ In einiger Entfernung trat die junge Frau hinter einem Baum hervor und lächelte verlegen.“
„Und sie hat dich wirklich mit ‚edler Recke‘ angesprochen, Alexander?“, fuhr ihm Marina dazwischen.
„Ja, aber jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein, dass es mir damals auch sehr fremdartig - aber nicht unangenehm vorgekommen ist - fremd eben.“
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