„Hilfe ist unterwegs. Sie brauchen keine Angst zu haben“, versuchte er die Unbekannte zu beruhigen. Erleichtert über die näher kommenden Martinshörner, setzte sich Lüscher auf eine hölzerne Kommode. Mit stechenden Augen tastete sich die Fremde vorsichtig entlang des alten Gemäuers. Schnelle Schritte und laute Stimmen näherten sich der mächtigen Holztür.
„Hallo, hierher bitte“, rief Lüscher erleichtert.
Mit einem knarrenden Pfeifen öffnete sich die Tür und mehrere uniformierte Personen betraten den Raum. Umsichtig übernahm eine junge Polizistin mit einem blonden Pferdeschwanz das Kommando.„Sind Sie Herr Lüscher?“
„Die junge Frau braucht Ihre Hilfe“, verwies er mit einem Nicken auf die Unbekannte.
„Marina Keller, Kapo Frauenfeld“, reichte sie ihm kurz die Hand.
„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Umgehend waren mehrere Rettungssanitäter zur Stelle. Geschwächt kauerte die junge Frau noch immer am Boden. Ein kurzes Raunen unterbrach plötzlich die hektische Geschäftigkeit.
„Bitte verlassen Sie alle rasch den Raum“, wandte sich der Notarzt an die anwesenden Beamten, während sich die Rettungssanitäter eiligst einen Mundschutz und Gummihandschuhe überzogen.
„Der Säugling ist verstorben“, informierte der Notarzt die junge Polizistin mit gesenkter Stimme, während sich seine Assistenten um die schluchzende Unbekannte und den Zeugen Lüscher kümmerten.
„Er zeigt offensichtlich die Symptome einer seltenen Form der Haut-Diphtherie. Die Geschwüre mit blutig wässrigen Absonderungen sind ein klares Zeichen und sehr ansteckend“, fuhr der Mediziner fort. „Wir müssen den kleinen Leichnam umgehend isolieren.“
„Haben Sie den Namen der Mutter, Herr Kappeler?“
„Nein, sie gibt diesbezüglich keine Auskunft.“
„Diphtherie“, reagierte die Polizistin überrascht.
„Ist diese Krankheit nicht längst ausgerottet?“
„Was denken Sie, warum mich der Fall erstaunt. Die Krankheit ist meldepflichtig“, sagte der Arzt und wickelte den leblosen Körper bedachtsam in das zerlumpte Tuch.
„Könnte es sein, dass sie aus einer psychiatrischen Klinik entwichen ist“,
fragte die Polizistin und zog ihn diskret beiseite.
„Das ist wohl eher Ihre Aufgabe, die Herkunft zu klären, Frau Keller“, sagte der Arzt lächelnd, zog sein Telefon aus der Tasche und trat vor die offene Tür hinaus.
'Das arme Geschöpf tut mir so leid'. Marina fühlte sich vom Anblick des verstorbenen Kindes betroffen. So jung und schon dermaßen von Krankheit und Leid gezeichnet, rang sie nach Haltung. 'Raff dich zusammen, Mädchen. Das ist dein Beruf. Du wolltest doch unbedingt zur Kripo'. Sie strich sich nachdenklich durch die blonden Haare. Obschon es ihr zum Heulen war, versuchte sie eine professionelle Distanz zu wahren. Krampfhaft vermied sie jeglichen Blick auf das verstorbene Kleinkind.
„Marina, kommst du voran?“ Einer ihrer Kollegen betrat den Raum.
„Kapo Frauenfeld, Adler“, reichte er dem Zeugen Peter Lüscher die Hand, den ein Sanitäter gerade hinausbegleiten wollte.
„Würden Sie sich bitte zu unserer Verfügung halten. Wir müssten noch Ihre Personalien aufnehmen – ist das okay?“
„Selbstverständlich.“
„Danke.“
„Hast du die Personalien der Zeugin, Alexander?“
„Ja, habe ich. Sie ist Sekretärin hier in den Büros. Wir müssen sie später auf den Posten kommen lassen. Sie steht noch unter Schock.“ Er steckte seinen kleinen Notizblock in die Hosentasche. „Die Kollegen von der Spurensicherung sind hier, bist du soweit?“ Er warf seiner Kollegin einen Blick zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und nahm sie etwas beiseite.
„Das mit dem Kind ist schlimm, Marina. Ich weiß. Da musst du durch. Ist bei dir trotzdem alles okay?“
„Wir sollten vorsichtig sein, meinte der Arzt. Komm lass uns gehen. Ist aber nett, dass du fragst. Es geht schon – danke.“ Sie gingen beiden über das gelbe Mosaik. Nichts machte Marina auch nach
Jahren mehr zu schaffen als Kinder, die vom Leid und Elend der Erwachsenen betroffen sind. Dann wurde ihr für einen kurzen Augenblick selbst der leuchtend weiße Schriftzug Polizei auf der blauen Uniform zur Last.
„Die Forensik ist informiert“, kam ihnen der Notarzt entgegen und verstaute sein Telefon. „Ich kann die genaue Todesursache des Kindes nicht eindeutig bestimmen. Die Krankheit ist nur eine Möglichkeit. Eine Fremdeinwirkung ist aber in dieser Situation nicht ausgeschlossen.“
„Gibt es Hinweise, woher sie kommt, Alexander, lebt sie vielleicht hier im Wohnheim der Kartause?“
„Die Geschäftsleitung ist dabei, das zu klären, Marina. Ich habe mich bereits darum gekümmert.“
„Vorsicht bitte!“ Die Fremde wurde von zwei Sanitäterinnen aus dem Gebäude geführt und zum Krankenwagen geleitet. Aufmerksam musterte Alexander Adler die junge Unbekannte. Nachdenklich sah er ihr im Vorbeigehen nach.
„Eigenartig“, wandte er sich sichtlich konsterniert an seine Kollegin. Nachdenklich ließ er seine Blicke über den belebten Hof der Kartause schweifen. Amseln erfreuten mit ihrem Gesang. Die frühsommerliche Sonne wärmte sein Gesicht. „Wenn ich jetzt wüsste, woher ich die Frau kenne“, er legte seine Hände auf die Umzäunung.
„Lass mich überlegen, Marina. Irgendwo habe ich das Gesicht schon mal gesehen“, konzentrierte er sich auf seine Erinnerungen.
„Genau, in ihrer mittelalterlichen Kleidung habe ich sie fast nicht erkannt. Sie sieht ziemlich verändert aus. Sie ist mir beim Joggen begegnet“, ließ Alexander seine Polizeikollegin wissen.
„Bist du dir ganz sicher, Alexander?“
„Ganz sicher, Marina. Das ist es. Ich wohne ja ganz in der Nähe, in Nussbaumen. Meine Jogging-Route geht meistens runter zur Ruine Hälfenberg und wieder zurück.“
„Wann war denn das?“
„Es ist noch nicht so lange her. An den genauen Tag erinnere ich mich ehrlich
gesagt nicht mehr.“
„Hast du dich mit ihr unterhalten oder gibt’s irgendwas Besonderes, woran du dich erinnern kannst und was uns weiterhelfen könnte?“
„Ich gehöre nicht zu denen, die gleich ins Gespräch kommen, Marina. Vorallem nicht bei Frauen. Schließlich stelle ich nicht gleich jeder nach“, verteidigte sich Alexander.
„Ja, natürlich nicht“, sie grinste. „Als Frau tut man das eben.“
„Was, nachstellen?“
„Nein, ins Gespräch kommen!“, sagte sie schmunzelnd.
„Also, die Begegnungen waren nur ganz flüchtig. Ein bisschen Smalltalk mehr nicht.“
„Hat sie dir bei diesem Smalltalk schon mal ihren Namen genannt?“, hakte Marina gespannt nach.
„Nein, das hat sie nicht. An ihrem Handgelenk ist mir aber eine außergewöhnliche Tätowierung aufgefallen. Eine Blume - eine Schlüsselblume glaube ich“, erinnerte sich Alexander.
„Das ist ja schon mal etwas!“ Marina wandte sich an die Rettungssanitäter.
„Können Sie das kurz überprüfen, bitte.“ Vorsichtig schoben diese der Unbekannten den Ärmel ihres Kleides etwas zurück.
„Tatsächlich, Alexander, du hast recht - sie trägt am rechten Handgelenk eine tätowierte Schlüsselblume.“
„Sie ist soweit stabil, Frau Keller. Wir würden sie jetzt gerne in die Klinik bringen.“
„Das ist in Ordnung, danke. – Alexander, würdest du bitte deine Aussage noch zu Protokoll geben. Vielleicht bringt uns das etwas weiter.“
„Klar, werde ich tun, wenn wir im Büro sind.“
„Okay – zurück zum Polizeiposten nach Frauenfeld. Für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Jetzt noch den Schreibkram erledigen.“
„Wartest du bitte noch einen Moment, Marina? Ich würde sie gerne nochmals kurz sehen. Bin gleich zurück“, bat Alexander und lief zum Krankenwagen.
„Ich würde gerne noch kurz ein paar Worte mit ihr sprechen“, bat er die Sanitäter um einen kurzen Augenblick.
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