„Ich muss dir etwas erzählen, mein Engel.“ Fernandes Stimme klang brüchig und ängstlich. „Aber sage mir vorher, gibt es irgendeine Möglichkeit, die Uhr zurück zu bekommen? Du hättest sie nie verkaufen dürfen!“
Obwohl dies kein direkter Vorwurf war, fühlte sich Laeticia betroffen und schuldig. Was hatte sie getan? War diese Uhr etwa besonders wertvoll? Hatte sie einen Familienschatz verschleudert?
„Ich wüsste ehrlich gesagt nicht wie. Ich weiß ja nicht, wer der Käufer war. Und ihn zufällig wieder zu treffen in einer Millionenstadt ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber nun sag schon, was hat es mit dieser Uhr auf sich? Ich wusste ja nicht, dass ich die Uhr hätte behalten müssen. Wenn du mir nur davon…“
„Schon gut, meine Kleine!“, unterbrach sie ihre Großmutter, „Du kannst nichts dafür. Ich dachte nur, dass diese Uhr schon lange zerstört oder gestohlen sei.“
Fernandes Stimme hatte sich etwas beruhigt und klang jetzt wieder annähernd normal. Ein leichtes Zittern schwang hier und da noch mit, aber Laeticia konnte wieder den gütigen und beruhigenden Klang vernehmen, der ihr schon als Kind jede Angst genommen hatte.
„Wie du dich vielleicht noch aus Erzählungen erinnerst, war dein Ururgroßvater, mein Großvater, ein Uhrmacher und Erfinder. Er war ein großartiger Mensch und ich habe ihn über alles geliebt. Als er starb, war dies für mich einer der schlimmsten Tage meines Lebens.“ Der alten Frau lief eine Träne über die Wange und Laeticia legte ihr den Arm um die schmalen Schultern.
„Doch ich wusste damals noch nicht, dass er keines natürlichen Todes gestorben war. Er wurde zu Tode geprügelt von Menschen, die ihm seinen Erfolg streitig machen wollten. Ich war damals noch ein kleines Mädchen und verstand nicht, was tatsächlich passiert war. Viel später, ich war schon erwachsen, hatte meine Mutter mir erzählt, was wirklich vorgefallen war. Und sie übergab mir eine Nachricht meines Großvaters, die er in den letzten Minuten seines Lebens an mich verfasst hatte. Nichts ergab einen Sinn. Aber aus Angst vor genau diesen Männern, die meinen Großvater ermordet hatten, zogen wir zurück in die Schweiz und änderten sogar unseren Namen. Zu seinem Gedenken in Horloger – Uhrmacher! Unser eigentlicher Familienname ist Chevalier. Erst lange nachdem ich deine Mutter zur Welt gebracht hatte, kehrte ich in unser altes Haus in der Rue de l‘Auvergne zurück. Es war noch in dem gleichen Zustand, wie zu dem Zeitpunkt, als wir es Hals über Kopf verlassen hatten. Kurz vor seinem Tod hatte mein Großvater an einer Erfindung gearbeitet, von der er sagte, sie würde die Welt verändern. Ich schaute ihm oft bei seinen Tüfteleien zu und genau diese neueste sensationelle Erfindung glich einer monströsen Armbanduhr mit einem Spiegel im Zentrum. Und hinter genau dieser Uhr waren seine Mörder offensichtlich her. Und da sie nach seinem Tod nicht mehr zu finden war, glaubte ich, hätte er sie rechtzeitig vernichtet oder die Mörder hätten sie bei ihm gefunden. Nun, offensichtlich hatte sie dein Ururgroßvater versteckt und nun ist sie wieder aufgetaucht. Und gleich wieder verschwunden.“
„Oh, wenn ich das doch nur geahnt hätte!“, rief Laeticia verzweifelt. „Was war denn nun diese revolutionäre Erfindung? Gab es sie wirklich? Oder ist er nie so weit gekommen?“
„Nun, er hatte mir nicht wirklich erzählt, was es damit auf sich hatte. Er sagte mir nur, man könne auf der Uhr nicht nur die Zeit sondern auch die Vergangenheit ablesen. Verstanden habe ich das nicht. Fertiggestellt habe ich die Uhr nie gesehen. Ich weiß also auch nicht wirklich, ob er sein Werk vollenden konnte.“
Plötzlich sprang Fernande voller Elan auf, stützte sich auf ihren Gehstock und marschierte los Richtung Wohntrakt. „Komm mit, meine Kleine, ich will dir etwas zeigen.“
Völlig überrascht von der unvermittelt energischen Aktion und noch gedanklich in der soeben gehörten Geschichte vertieft, brauchte Laeticia einen Moment um zu reagieren und eilte dann ihrer Großmutter hinterher, die schnellen, wenn auch wackligen Schrittes losstürmte. Motiviert durch ihre eigene Erzählung hatte sich die alte Frau so weit erholt, dass sie nun ohne fremde Stütze und für ihre Verhältnisse zügig durch den Hintereingang direkt auf den Fahrstuhl zusteuerte. Laeticia blieb eng bei ihr, um im Notfall schnell zupacken zu können, im Moment jedoch sah es nicht nach einem weiteren Schwächeanfall ihrer Großmutter aus.
In ihrem Zimmer angekommen griff Fernande gezielt nach der alten Bibel, die zwischen all den Bildbänden und theologischen Büchern stand und schlug sie auf der letzten Seite vorsichtig auf. Zum Vorschein kam ein kleiner vergilbter Fetzen Papier, ähnlich eines vertrockneten Schmetterlingsflügels, und aussah, als würde er bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen. Darauf nur noch schwerlich zu erkennen war eine verblasste, krakelige Schrift mit ungleich dick geschriebenen Buchstaben.
„Dies sind die letzten Worte deines Ururgroßvaters, mein Kind“, flüsterte Fernande, „und seine Botschaft an mich.“
Laeticia, beeindruckt von diesem kleinen Schriftstück, las stockend dessen Inhalt vor:
Meine kleine Fernande! Es ist der 24. Mai 1935, 10 Uhr 35. Denk an unser Geheimnis und du wirst mich sehen können, ich erkläre es dir dann persönlich!
Was wollte der alte Mann erklären? Und wie wollte er das anstellen? Persönlich! Was sollte seine Enkelin sehen können? Oder war er nur nicht mit seiner Nachricht fertig geworden? Die scheinbar versprochene Erklärung hatte der alte Mann jedenfalls mit ins Grab genommen.
Laeticia schaute mit feuchten Augen ihre Großmutter an. Auch Fernande liefen die Tränen über die faltigen Wangen.
„Ist das nicht traurig?“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Ihm war es nicht einmal mehr möglich, seine Nachricht an mich zu beenden. Armer Großpapa, er war ein so lieber und herzensguter Mensch. Nie hätte er jemandem etwas Böses getan. Wie konnte man ihm das antun?“
„Ja“, presste Laeticia hervor. Sie hatte einen Kloß im Hals. „Ein trauriges Ende. Aber was glaubst du, wollte er dir mitteilen? Und warum ausgerechnet dir? Du warst doch noch ein kleines Mädchen. Hätte er darauf verzichtet, den Zeitpunkt so genau zu benennen, wäre vielleicht Zeit gewesen, dir mehr zu schreiben. Oder weißt du, was er damit meinte, dass du ihn sehen könntest? Wie schlimm das Ganze doch ist!“
„Ich habe nie verstanden, was er mir mitteilen wollte. Es bezog sich wohl auf diese Erfindung, an der er arbeitete und von der er mir erzählte. Er sagte immer, er werde durch die Uhr schauen können. Aber dadurch, dass ich diese Nachricht fast zwanzig Jahre später erst bekam und die Uhr nie vollendet gesehen hatte, erinnerte ich mich natürlich auch nicht mehr im Detail an diese Zeit. Als Mädchen war es spannend, meinem Großvater zuzusehen, später verblassten die Erinnerungen im Alltag. Wenn wir die Uhr noch hätten, wüssten wir vielleicht mehr. Sie hätte ich gern als Erinnerung an meine Kindheit und diesen Mann behalten. Hätte ich doch nur geahnt, dass sie noch existiert. Und das auch noch direkt in meiner Nähe.“
„Es tut mir so leid! Ich verspreche dir, Mamie, dass ich die Uhr wiederbekomme. Bei meiner Seele, ich hole sie dir zurück!“
Laeticia umarmte ihre Großmutter und beide Frauen weinten und drückten sich und Laeticia wusste, dass sie alles versuchen und nicht ruhen würde, um ihr Versprechen einzulösen. Jetzt musste sie erst einmal diesen Amerikaner finden. Bei weit über zwei Millionen Parisern und täglich noch einmal so vielen Besuchern kein leichtes Unterfangen. Glich es doch der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Aber auch diese wurde manchmal gefunden!
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