Das Altenheim lag an einer Nebenstraße und war umgeben von einer großen Parkanlage mit majestätischen alten Bäumen, einem Ententeich, einem kleinen Theaterplatz für Konzertaufführungen und zahlreichen Bänken zum Verweilen. Ein idyllischer Ort, um seinen Lebensabend zu verbringen, trotz des Bewusstseins jedes Bewohners hier, dass dies die letzte Station einer langen Reise sein würde.
Laeticia hatte einige Male auf dem Parkplatz kreisen müssen, bis sich eine Lücke auftat. Es war Sonntag und somit Hauptbesuchstag für Verwandte und Freunde und dank dem angenehmen Wetter und der wärmenden Sonne waren viele Spaziergänger auf den Wegen rund um den Gebäudekomplex herum unterwegs. Andere, die des Laufens nicht mehr mächtig waren bevölkerten die Terrassen und Balkone und das kleine Café im Erdgeschoss nahe beim Eingang.
Dort saß auch schon Laeticias Großmutter Fernande Horloger und wartete auf ihre Enkelin. Sie trug zum dunkelblauen Rock eine weiße Bluse, gepflegte Schuhe und hatte zur Feier des Tages eine Perlenkette und das passende Armband angelegt. Ihren Eisbecher mit Erdbeeren, Sahne und Schokoladensoße hatte sie bereits zur Hälfte geleert. Eine Gaumenfreude, die sie sich trotz aller Diätpläne und Warnungen der Ärzte täglich gönnte. Zumindest an Tagen, an denen sie sich überhaupt an das Café erinnerte.
Ein freudiges Strahlen huschte über das faltige Gesicht der alten Frau, als sie Laeticia auf sie zukommen sah. Laeticia konnte vom ersten Augenblick an erkennen, dass es ihrer Großmutter heute prächtig ging. Und das freute auch sie, war doch kaum etwas deprimierender, als seinen Nachmittag mit einem Menschen zu verbringen, der nur wirres Zeug redet oder seinen Besucher im schlimmsten Fall nicht einmal erkennt. So gern man diesen Menschen auch hatte. Aber heute war nicht so ein Tag. Fernandes Augen funkelten neugierig und lebensfroh und ihre Zunge leckte gierig den noch so kleinsten Rest Eis und Sahne aus den Mundwinkeln.
„Setz dich, mein Kind“, rief sie schon von Weiten ihrer Enkelin entgegen, „ich hab schon mal angefangen. Du weißt ja, wenn ich mein Eis zu spät esse, dann habe ich heute Abend keinen Hunger mehr.“
„Bonjour, Mamie“, begrüßte Laeticia die alte Frau und drückte ihr zwei Küsschen links und rechts auf die Wangen. „Wie geht es dir heute? Du siehst großartig aus!“
„Danke, meine Kleine. Ich fühle mich auch großartig. Liegt bestimmt am Wetter. Die Vögel haben mich heute mit freudigem Gezwitscher geweckt. Die haben sich bestimmt auch über die Sonne gefreut. Lass uns ein wenig nach draußen gehen, ich esse nur schnell noch mein Eis fertig. Willst du nicht einen Kaffee trinken?“
„Nein Danke, Großmutter! Lass uns lieber die frische Luft genießen, aber iss erst in Ruhe auf.“
So gern Laeticia auch Kaffee trank, der Filterkaffee hier schmeckte scheußlich. Sofern es möglich war, drückte sie sich gerne um die gemeinschaftliche Tasse Kaffee. In der Botschaft stand ein Kaffeeautomat direkt neben ihrem Büro, der köstlichen Kaffee in allen Variationen ausspuckte und mit jedem italienischen Café mithalten konnte. Seitdem war sie etwas verwöhnt und empfand gewöhnlichen Filterkaffee wie Spülwasser. Selbst zuhause trank sie nur noch Tee.
Fernande löffelte genüsslich ihren Eisbecher aus und sie hätte vermutlich auch die letzten Reste noch aus dem Glas geleckt, hielt sie sich nicht selber für eine Dame von Welt. Aber es machte Freude zu sehen, wie sehr sie diese Leckerei genoss.
Laeticia zahlte für ihre Großmutter und die beiden machten sich auf den Weg in den Park. Den kleinen Butterkeks, der zum Eis gereicht wurde, hatte die alte Dame wie gewöhnlich in ihre Handtasche gesteckt, um ihn an die Enten am Teich zu verfüttern.
„Wie war dein Tag gestern, mein Engel?“, fragte Fernande, während sie sich bei ihrer Enkelin am Arm einhakte. „Warst du auf dem Flohmarkt?“
„Ja, Mamie. Und ich konnte sogar einiges verkaufen. Selbst diesen fürchterlichen ausgestopften Raben, vor dem ich mich als Kind immer so gefürchtet habe. Weißt du noch?“
„Oh ja“, entgegnete ihr ihre Großmutter und blieb einen Moment stehen. Ihre Augen blickten starr in die Ferne, so als könne sie dort die Bilder aus der Vergangenheit erkennen und ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann blickte sie liebevoll zu ihrer Enkelin auf und flüsterte: „Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Wenn dein Großvater nicht zuhause war, habe ich ihn immer abgehangen und auf den Dielenschrank gelegt. Ich hatte selbst Angst vor diesem furchterregenden Tier. Ich hab immer geglaubt, irgendwann würde es zum Leben erwachen.“
Sie lachten gemeinsam über dieses kleine Geständnis und gingen langsam weiter. Laeticia war glücklich, ihre Großmutter nach langer Zeit wieder einmal so sorglos und fröhlich zu sehen. Es war wie früher, als sie noch ein Kind war. Sie verbrachte viel Zeit bei ihren Großeltern und lauschte voll Spannung den Geschichten, die sie von alten Zeiten erzählten. Doch irgendwann mit zunehmendem Alter wiederholten sich diese Geschichten und es wurden immer weniger und in den letzten Monaten waren die Geschichten entweder ganz vergessen oder kamen nur noch in zusammenhanglosen Fetzen. Doch heute fühlte sich Laeticia an glückliche Zeiten erinnert.
„Was hast du noch verkauft, mein Kind? Erzähl!“
„Ich weiß schon selber nicht mehr, was es alles war. Dieses Bild mit dem röhrenden Hirsch und das Stillleben mit dem Obstkorb. Die alte Waschschüssel mit Krug. Das Silberbesteck und Teile des Porzellans. Ein paar Puppen und Bücher. Die komische Uhr und noch allerlei Kleinkram, Zinnbecher und so ein Zeug.“ Laeticia ertappte sich selbst dabei, wie abfällig sie plötzlich über die Dinge sprach, die ja schließlich ein Teil des Lebens ihrer Großmutter waren und hielt inne. Vielleicht war es doch nicht so klug, alles zu erzählen. Schließlich verschleuderte sie den Besitz der alten Frau und wahrscheinlich größtenteils weit unter Wert.
„Was für eine komische Uhr?“, fragte da plötzlich Fernande.
„Na diese riesige Armbanduhr. Ich hatte sie in einer der verstaubten Kisten auf dem Speicher gefunden. Sie hatte sich wohl unter dem Rock einer der Puppen verhakt.“
„Wie sah sie aus?“, hakte Laeticias Großmutter nach. Ihr Lächeln war aus dem Gesicht verschwunden und ihr Blick starrte wieder in die Vergangenheit. Doch diesmal nicht mit dem neugierig, verschmitzten Glitzern in den Augen. Fast konnte man meinen, ihr Blick drückte Verängstigung aus.
„Na wie so eine überdimensionierte Armbanduhr. Mit so einem komischen Spiegel vorne drauf. Fast futuristisch. Ehrlich gesagt fand ich sie fürchterlich hässlich. Aber auch sie hat einen Käufer gefunden. Erinnerst du dich an sie?“
Laeticia lächelte aufmunternd, da ihr der so schnell verfinsterte Blick Fernandes nicht entgangen war.
„Ja, ich glaube.“, antwortete die alte Frau leise und Laeticia spürte, wie das Gewicht an ihrem Arm immer schwerer wurde. Ihrer Großmutter versagten plötzlich die Beine und hätte Laeticia sie nicht komplett gehalten, wäre sie auf dem Weg zusammengebrochen. Eine Passantin hatte den Schwächeanfall bemerkt und eilte herbei, um Laeticia zu helfen, die alte Frau zu einer nahestehenden Bank zu bringen. Dort legten sie Fernande vorsichtig hin und Laeticia hielt ihre Beine hoch. Die zu Hilfe gekommene Frau bot an, einen Arzt zu holen, doch Fernande winkte ab und versicherte, dass es ihr wieder besser ging, sie müsse nur einen Moment ausruhen.
Beunruhigt hielt Laeticia ihrer Großmutter die Hand und fragte: „Was ist denn los, Mamie? Was ist passiert? Sollen wir nicht doch besser einen Arzt rufen? Oder sollen wir wieder hineingehen?“
„Nein, nein. Es geht schon. Gib mir nur eine Minute, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin.“
Ganz langsam kehrte wieder etwas Leben zurück ins Gesicht der alten Frau, aber so glücklich und entspannt, wie sie vor wenigen Momenten noch gewesen war, war sie jetzt nicht mehr. Ihre Hautfarbe hatte wieder die Blässe der letzten Wochen angenommen und ihre Falten schienen plötzlich tiefer und zahlreicher als zuvor. Fernande setzte sich entgegen der Bitte ihrer Enkelin mühsam auf und kramte umständlich eine Wasserflasche aus ihrer Handtasche. Sie trank einen Schluck, wobei sie die Hälfte verschüttete. Dann suchte die alte Frau ein Pfefferminzbonbon und steckte es sich in den Mund. Langsam erholte sie sich ein wenig.
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