Das Tabu schließt um 3 Uhr. Um 2 Uhr flüstert mir Fides zu, sie würde mit Fabian gehen, um dessen Auto zu holen. Er wäre mit dem Motorrad da. Sie kämen aber zurück. Sie fragt noch: „Bist du jetzt böse?“
Ich tanze weiter etwas verkrampft mit Schelly und tue so, als ob es mir nichts ausmacht, dass sie mit Fabian verschwindet.
Die Unterhaltung mit Schelly kommt nicht wirklich in Fluss.
Pünktlich um 3 Uhr hört die Kapelle auf zu spielen. Ich gehe mit Schelly zum Ausgang. Fides steht zusammen mit Fabian auf der Straße vor dessen eleganter Limousine.
Fabian fährt zuerst Schelly nach Hause, sie wohnt in Freimann, dann Fides, das ist in der Gegenrichtung. Am Odeons-Platz lässt er mich aussteigen. Beim Aussteigen versucht Fides nett zu mir zu sein, und wispert mir zu: „Ich ruf dich an.“ Sie winkt mir fröhlich zu, als Fabian wieder losbraust.
Es ist noch ein langer Weg zu meinem Zimmer. Ich bin gekränkt. Sie hat Fabian den Vorzug gegeben. Ich bin in die zweite Reihe ihrer Verehrer abgerutscht.
Ich gestehe mir aber ein, dass sie auch heute Abend einfach hinreißend aussah. Sie hatte ein sehr mädchenhaftes, dunkelblaues Kleid an, mit einem weißen Kragen, weißen Knöpfen und einem weißen Besatz an den Ärmelenden. Ihre Haare trug sie an diesem Abend offen. Sie fallen ihr lange über die Schulter. Seit ein paar Tagen hat sie ihre Haare hellblond gefärbt. Wenn Sie am Tisch saß, rutschte ihr kurzes Kleid nach oben und ihre Beine waren in voller Länge sichtbar. Es ist ein warmer Sommerabend und sie hatte keine Strümpfe an. Besonders reizvoll ist ihr Busen, der sich deutlich unter dem hochgeschlossenen Kleid abzeichnet. Sie wird von allen Männern, denen wir an diesem Abend begegnen, mit bewundernden Blicken beäugt.
Sie hat an diesem Abend mit mir gespielt. Sie kann mich sehr verletzen.
Fabians komfortable Limousine ist zum Schmusen viel geeigneter als die leeren Marktstände, die ich immer mit ihr aufsuche. Ich bin sicher, dass gerade jetzt Fabian in einer dunklen Straße anhält und Fides küsst. Ich schlafe nicht in dieser Nacht.
Am Morgen beschließe ich, sie nicht mehr um eine Verabredung zu bitten. Sie ist in Fabian verliebt.
Sie ruft aber, wie versprochen, an und wir verabreden uns für den nächsten Mittwoch. Meine Zuneigung zu Fides schwächt sich ab. Der Flirt mit Fabian wirkt nach. Ich interessiere mich sogar für ein anderes Mädchen.
Mein Freund Franz gibt eine Party. Er wohnt in einem Vorort. Auf der Anreise wirft Fides mir vor, in meinem Freundeskreis über sie zu sprechen und zu verbreiten, sie hätte eine pessimistische Lebenseinstellung angenommen. Udo, der Freund ihrer Schwester, hätte maßgeblich dazu beigetragen.
Ich bin beschämt über meine Schwatzhaftigkeit. Ich sprach mit meinem Freund Hans Schuster über sie und brachte diese Bedenken zum Ausdruck. Fides erfuhr schon vor Wochen von diesem Gespräch. Sie muss meine Schwatzhaftigkeit als einen Vertrauensbruch empfunden haben.
Sie verhielt sich großzügig und traf sich trotz dieser Kränkung mit mir.
Sie sagt, sie sei überzeugt, dass ich vor allem ihr Äußeres mögen würde, nicht aber ihr inneres Wesen. Sie wirft mir vor, oberflächlich und kleinlich zu sein. Als Beweis führt sie meine Schwatzhaftigkeit über ihr Weltbild und mein voreiliges Urteil über den Freund ihrer Schwester an.
Ich hatte den Freund ihrer Schwester als jemand geschildert, der nur den naturwissenschaftlich geschulten Intellektuellen gelten lässt und den ganzen Rest der Menschheit und ganz besonders alle Geisteswissenschaftler verachtet.
Sie sagt:
„Ich fühle mich zu einer pessimistischen Einstellung hingezogen. Jedes Nachdenken über das menschliche Leben muss zwangsläufig zu einer pessimistischen Einstellung führen. Es sind die nachdenklichen Menschen, die pessimistisch über das Leben denken. Menschen, mit einer optimistischen Einstellung zum Leben, sind die, die nicht nachdenken.“
Sie führt Schriftsteller wie Sartre oder Camus für eine pessimistische Grundeinstellung an und fährt fort:
„In einer Welt in der Abscheulichkeiten passieren, wie die Ermordung der Juden durch uns Deutsche oder die Ermordung von Frauen und Kindern in Vietnam durch die Amerikaner, ist eine optimistische Einstellung zum Leben purer Provinzialismus.“
Mir unterstellt sie eine Einstellung, nach der sich letztlich doch alles zum Guten wendet. Diese Einstellung hält sie für naiv und durch die Entwicklung der Menschheit widerlegt.
Am Ende schwächt sie ihre Aussage über den Provinzialismus, den sie mir unterstellt, etwas ab, indem sie sich selbst auch der Oberflächlichkeit bezichtigt.
Sie sagt von sich, sie wäre viel zu phlegmatisch, um gründlich über intellektuelle Dinge nachzudenken.
Der Vorwurf des Provinzlers trifft mich hart. Ich versuche, mit allerlei Argumenten zu parieren, merke aber, dass diese Argumente nicht überzeugen.
Als ich sage, dass Pessimismus ein Zustand ist, der überwunden werden muss und letztlich zur Reife führt, bittet sie mich aufzuhören. Sie könne so einen Unsinn nicht ertragen.
Ich bin sehr berührt von der Ernsthaftigkeit ihrer Ausführungen. Ich sah mich in unserer Beziehung als den Intellektuellen und sie als die Schöne.
Mir wird klar, dass das ein Irrtum ist. Sie ist die Reifere. Ich bin der Unreife. Ich schwanke in meinen Ansichten, je nach der Lektüre, die ich gerade lese.
Auf der Party ist sie arrogant zu meinen Provinzler-Freunden.
Meine Zuneigung wächst wieder. Die Erkenntnis, dass sie ihre Einstellung zum Leben so trefflich und knapp begründen kann, flößt mir Respekt ein.
Fides mag keine weltanschaulichen Gespräche. Künftig meiden wir dieses Thema. Sie hat ihre Einstellung begründet. Jede weitere Diskussion erübrigt sich.
Wenn ich es trotzdem nicht lassen kann, ein Gespräch über ein weltanschauliches Buch, das ich gerade lese, zu beginnen, betrachtet sie mich mit einem ironischen, abschätzigen Lächeln und würgt damit mein Mitteilungsbedürfnis ab.
Als ich einmal Marcuse zitiere, der für die freie Ausübung der Sexualität plädiert und die Kleinfamilie auflösen will, nickt sie nur zustimmend, findet aber keinen Grund das Thema zu diskutieren.
Hinsichtlich der Auffassung, dass es keine göttliche Regie gibt und das Leben aus Zufall entstanden ist, sind wir uns einig. Mir wurde diese Einstellung durch meinen Vater vermittelt. Fides musste sich erst zu dieser Erkenntnis durchringen. Beide Eltern sind strenggläubige und unduldsame Katholiken. Eine strikte Einhaltung der Gebote ist ihnen selbstverständlich. Dazu gehört auch der Gottesdienst am Sonntag. Sie erwarten das auch von ihren Töchtern. Beide sind auch willens, für diese Einhaltung, Druck auf ihre Töchter auszuüben.
Für die Töchter ist klar, dass es aussichtslos ist, eine ablehnende Haltung zu den religiösen Grundsätzen der Eltern einzunehmen. Der Vater reagiert mit Wutausbrüchen, wenn er bei seinen Töchtern eine Abweichung vom katholischen Glauben entdeckt. Er ist in einem Dorf, unter ärmlichen Bedingungen, als Halbwaise aufgewachsen und vom Pfarrer gefördert worden und konnte mit Unterstützung der katholischen Kirche eine höhere Schule zur Vorbereitung auf das Priesteramt besuchen. Er begann nach dem Abitur in München Theologie zu studieren, wechselte aber schon nach einem Semester an die Technische Hochschule und immatrikulierte sich dort als Maschinenbauer.
Die Mutter kam auch aus ärmlichen Verhältnissen. Ihre Eltern waren kurz vor dem ersten Weltkrieg aus Polen nach Deutschland eingewandert. Sie hatte mit einem Begabten-Stipendium die höhere Schule besucht, einige Jahre als Krankenschwester gearbeitet und dann Medizin studiert. Die Mutter ist nicht so naiv in ihrem Glauben wie der Vater. Sie hat vier Kinder zur Welt gebracht, ist aber prüde.
Über Sex wird in ihrer Familie nicht gesprochen. Die Töchter wurden von den Eltern nicht aufgeklärt.
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