Ich habe sie in dieser Zeit geliebt, das vergesse ich jetzt manchmal.
Um meine Erinnerung an die gute Zeit mit meiner Frau zurückzuholen hole ich mein Tagebuch, das ich als junger Mann geführt habe und suche dem ersten Eintrag, in dem sie vorkommt.
Gestern lernte ich auf dem Dschungelball im Haus der Kunst ein schönes Mädchen kennen. Sie springt die Treppe vor dem Haus der Kunst in München herunter. Ich stehe, zusammen mit einer ihrer Klassenkameradinnen, unten auf der Straße. Verspielt wie ein kleines Mädchen, kommt sie daher gehüpft. Sie trägt eine Strumpfhose und darüber ein kurzes, dunkelblaues, leicht durchsichtiges Nachthemd.
Ihre Beine sind von einer mir bis dahin unvorstellbaren Vollkommenheit. Ihre gut ausgebildeten Oberschenkel und Waden ergeben im Gesamtbild Beine von perfekten Proportionen. Meine Mutter hat Säbelbeine, in meiner Nachbarschaft wohnen drei Schwestern mit hübschen Gesichtern, aber alle drei erbten die kurzen, dicken Beine der Mutter. Und bei der hübschen Renate aus der Klasse bevor ich nach München kam, in die ich immer noch ein bisschen verliebt bin, stimmen die Relationen zwischen Oberschenkel und Unterschenkel nicht.
Als die schönen Beine bei uns unten ankommen, blicke ich in das zarte und anmutige Gesicht eines jungen Mädchens an der Schwelle zu einer erwachsenen Frau, das aber immer noch mehr Mädchen als Frau ist.
Ihr Gesicht hat klare Linien. Eine hohe Stirn, eine kleine gerade Nase und einen zarten Mund mit geschwungener Unterlippe. Ihr Gesicht ist ein wenig zu perfekt, wirkt beinahe kühl. Die dichten dunkelblonden Haare sind zu einem Krönchen hochgesteckt. Unter dem durchscheinenden Nachthemd zeichnen sich schmale Hüften und ein wohlgestalteter Busen ab.
Mich ergreift bei ihrem Anblick ein Wohlgefühl, das ich auf Bergtouren beim Betrachten des Horizonts empfand. Einige Male auch beim Betrachten von Kunstwerken in Museen, aber noch nie beim Betrachten eines Menschen.
Als sich unsere Blicke treffen, schlägt mein Herz, anstatt lautlos in der Brust, übermäßig laut in meinem Kopf. Mich ergreift ein leichter Schwindel. Ich sehe mir zu, wie ich beim Anblick dieses Mädchens an den Rand eines Schwächeanfalls gerate. Die heftige Gefühlsregung, die dieses Mädchen bei mir auslöst, verwirrt mich. Sie dagegen ist, trotz ihrer kindlichen Treppensprünge, kein bisschen verlegen. Ihr Blick ist neugierig, ihr Lächeln halb nachsichtig, halb ironisch. Sie nahm meine Gefühlswallung wahr. Ich bin nicht der erste Mann, der von ihrem Anblick hingerissen ist.
Sie wird mir als Fides vorgestellt und ich drücke kurz ihre Hand. Ich bin so in ihren Anblick versunken, dass ich nicht sprechen kann.
An diesem Abend weiche ich nicht von ihrer Seite. Wir küssen uns an der Bar. Es ist ein feuchter, etwas ungelenker Kuss.
Später darf ich sie nach Hause bringen. Der Weg führt uns über den Viktualienmarkt. Dort ziehe ich sie in den Schatten eines verlassenen Marktstandes und küsse sie wieder und wieder, bis sie sich mir entzieht.
Wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag im Café Rischart.
Lange vor der verabredeten Zeit sitze ich im Café. Ich bin aufgewühlt und ungeduldig. Sie kommt nicht. Die verabredete Zeit ist längst verstrichen.
Ich denke schon daran zu gehen.
Da erscheint sie.
Sie ist angezogen wie eine Internatsschülerin: dunkelblauer Faltenrock, hellblaue Strickjacke, weiße Bluse. Die dichten Haare fallen ihr in leichten Wellen bis zu den Schultern. Sie ist ungeschminkt.
Ihr Anblick berührt mich. Sie ist noch schöner als in meiner Erinnerung.
Ich stehe auf, um sie zu begrüßen, doch sie reicht mir nicht ihre Hand. Sie setzt sich auf den freien Stuhl an meinem Tisch. Für einen Moment fühle ich einen leichten Schwindel und bin froh, dass ich mich wieder setzen kann.
Sie erklärt mir, sie wollte eigentlich gar nicht kommen. Erst nachdem die verabredete Zeit um eine halbe Stunde überschritten war, habe sie sich doch noch anders entschieden.
Sie spricht mit mir in einem Ton, der anzeigt, dass sie unsicher ist, ob das Treffen mit mir lohnend ist. Sie vermeidet es, mir in die Augen zu schauen.
Ihre Eltern sind beide Ärzte. Sie hat drei Schwestern und wohnt ein paar Schritte entfernt vom Viktualienmarkt. Sie macht nächstes Jahr Abitur und danach will sie Französisch studieren. Sie spricht ohne Dialekt.
Ich bin eine Klasse unter ihr, ich bin einmal sitzengeblieben. Ich lebe in einer nahen Kleinstadt und fahre täglich nach München zur Schule. Meine Mutter hat weder Bildung noch einen Beruf. Mein Vater war Anwalt und ist vor vier Jahren, beim Bergsteigen, ums Leben gekommen. Ich war bei dem Unfall dabei und verarbeitete den Schmerz über den Tod meines Vaters nur unvollständig. Ich werde nur mit einem Stipendium studieren können, mein Hochdeutsch ist mangelhaft, meine Schulnoten kläglich.
Ich bekomme Angst, dass es mir nicht gelingen wird, die Liebe dieses Mädchens zu gewinnen.
Bevor wir gehen, zieht sie eine Haarnadel aus ihrer Handtasche und greift mit beiden Händen nach ihrem Haar, windet es zu einem Knoten und befestigt ihn mit der Haarnadel.
Sie strafft dabei ihren Oberkörper, so dass sich ihre Brüste deutlich durch die Bluse abzeichnen. Ich kann nicht umhin, auf ihre Brüste zu schauen und bekomme vor Verlegenheit einen Blutstau im Kopf.
Sie beobachtet mich scharf und scheint zufrieden mit der Reaktion, die sie bei mir auslöst.
Mir wird bewusst, dass ich den Kick, den ihr Anblick bei mir bewirkt, wieder und wieder erleben möchte. Ich bin süchtig nach den Gefühlen, die dieses schöne Mädchen bei mir an den Tag bringt.
Sie erlaubt mir, sie noch ein Stück zu begleiten. Ich wage nicht, ein neues Treffen vorzuschlagen. Beim Verabschieden lädt sie mich zu einer Faschingsparty ein. Die Party kann erst am Aschermittwoch stattfinden, da ihre Eltern erst dann verreisen.
Der Aschermittwoch beginnt gut. Bei unserem jährlichen Skirennen am Wallberg werde ich Schulmeister. Alle 9.- und 8.Klässler von einem 7.Klässler geschlagen. Mein stärkster Rivale ist ein 6.Klässler.
Auf der Party bin ich der einzige Nichtmaskierte. Die männlichen Besucher sind Studenten. Die weiblichen kommen überwiegend aus der Abiturklasse von Eva, der Schwester von Fides.
Star des Abends ist Udo, der Freund von Eva. Udo studierte Medizin und studiert jetzt Physik. Er hat eine Assistenten-Stelle an der Uni und fährt einen MG. Er liebt es, seinen Intellekt glänzen zu lassen und ist gegenüber seinen Gesprächspartnern gnadenlos. Er versucht sie zu vernichten. Mit mir gelingt ihm das sehr gut.
Er hält Hof am Familientisch. Es wird über Literatur diskutiert. Als ich mich der Gruppe nähere, verstehe ich den Namen Musil. Ich las erst vor kurzer Zeit von Musil den Roman “Törless“. Ich setze mich dazu und ergreife auch bald das Wort und bringe meine Begeisterung für den “Törless“ zum Ausdruck.
Udo winkt ab, der “Törless“ sei ganz nett, aber uninteressant. Der “Mann ohne Eigenschaften“ ist das Packende an Musil. Ich hörte noch nie vom “Mann ohne Eigenschaften“ und frage lernbegierig, was das für ein Buch sei. Meine Frage wird überhört und Udo erörtert weiter die Dreiecksbeziehung Agathe, Ulrich und Diotima im “Mann ohne Eigenschaften“.
Fides trägt das leicht durchsichtige, dunkelblaue Nachthemd, das ich schon kenne, aber keine Strumpfhose, sondern eng sitzende Shorts mit abgeschnittenen Beinen.
Ihre Beine sind weiß und ohne Strumpfhose noch schöner und erotischer als in meiner Erinnerung.
Als ich sie frage, was ihr Kostüm darstellt, schaut sie mich nachsichtig an und sagt: „Du hast wohl noch nie ein Straßenmädchen gesehen.“
„Stimmt, woran erkenne ich ein Straßenmädchen?“
„An den abgeschnittenen Shorts.“
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