Kurz danach betritt ein Pfleger den Behandlungsraum, kommt aber gleich wieder heraus und leistet mir Gesellschaft.
Nach etwa zwanzig Minuten öffnet sich die Schiebetür. Eine Schwester fährt Fides in einem Bett heraus und übergibt sie dem Pfleger. Der fährt mit uns in ein anderes Stockwerk. Sie kommt in ein Zimmer, in dem schon eine Patientin liegt.
Ich setze mich neben ihr Bett und halte ihre Hand. Anscheinend hat sie ein Beruhigungsmittel bekommen, denn sie schläft bald ein.
Ihr Gesicht ist entspannt und nicht mehr schief.
Am Montagmorgen muss ich dringende Programmierarbeiten erledigen. Am Nachmittag fahre ich wieder in die Klinik.
Meine Frau ist nicht in ihrem Zimmer. Es dauert nicht lange und ein Pfleger schiebt sie im Bett herein. Das schiefe Gesicht ist weg. Sie zeigt mir stolz, dass sie ihren linken Arm wieder heben kann. Sie zieht den Bademantel an, den ich ihr mitgebracht habe und wir gehen ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Ich bin erleichtert. Mich erwartet viel Arbeit bei einem Kunden in Minden/Westfalen. Morgen nehme ich den ersten Zug.
Gestern Abend kam ich erst spät aus Minden zurück.
Fides wurde heute am Vormittag aus der Klinik entlassen. Zusammen mit meinen Töchtern nahm ich in der Klinik den Abschlussbericht der Ärzte entgegen.
Sie leidet unter einer vaskulären Demenz. Eine Krankheit, bei der Gehirnzellen absterben. Eine Krankheit, für die es keine Medikamente gibt und die unabwendbar in die Demenz führt. Die Aufnahmen ihres Gehirns zeigen Schäden, die mehr als 10 Jahre alt sind. Die Ärzte erklären uns, dass das Gehirn in der Lage ist, abgestorbene Zellen, die lebenswichtig sind, durch weniger lebenswichtige Zellen zu ersetzen. So kommt es, dass Demenz-Patienten zuallererst die Empathie verlieren. Das erste Anzeichen der Krankheit ist in der Regel eine krasse Persönlichkeitsveränderung.
Durch den Schlaganfall sind weitere Schäden im Gehirn entstanden.
Die Patientin wird als derzeit beschwerdefrei entlassen. Uns wird dringend eine Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst empfohlen, der die regelmäßige Einnahme der Medikamente gewährleistet.
Es sind jetzt fünfzehn Jahre, dass die guten Jahre mit Fides zu Ende gingen. Unsere kleine Tochter war damals gerade zehn Jahre alt, die große schon fünfzehn und tief in der Pubertät.
Ich arbeite oft bei meinen Kunden und bin nur mehr selten bei meiner Frau.
Ich war jetzt drei Monate bei einem Kunden in der Nähe von Hamburg. Bei meiner Rückkehr erschrak ich über ihren Zustand.
Sie ist tiefer in ihre Krankheit gestürzt. Sie hat jetzt nicht nur ihre Empathie verloren, sie vernachlässigt auch ihr Äußeres und sie wäscht sich nicht mehr regelmäßig. Sie sitzt stundenlang vor dem Fernseher. Trotz der geringen Entfernung fährt sie immer mit dem Auto zum Einkaufen. Sie ist übergewichtig, weil sie nicht mehr regelmäßig isst, aber ständig Süßigkeiten knabbert. Sie stinkt durchdringend nach Urin. Sie ist vereinsamt und verwahrlost.
Die Klinik empfahl einen Arzt, der auf demente Patienten spezialisiert ist. Bei einem Besuch versucht er, meiner Frau bewusst zu machen, dass sie dement ist.
Er sagt: „Sie stinken nach Urin. Sie waschen sich nicht. Sie wechseln ihre Kleider nicht. Sie sind dement.“ Meine Frau ist erst wie erstarrt, dann ruft sie empört: „Sie lügen, ich habe heute geduscht.“ Der Arzt steht auf und holt seine Sprechstundenhilfe. Die bestätigt, dass es in dem Raum nach Urin stinkt und dass der Geruch von meiner Frau ausgeht.
Meine Frau wird blass vor Zorn und steht wütend auf, um zu gehen.
Jetzt beschwichtigt sie der Arzt. „Sie sind krank, ich will ihnen helfen. Sie brauchen Medikamente.“ Er beginnt, in seinen Unterlagen zu kramen. Sagt, er wüsste ein geeignetes Medikament, ihm fiel aber der Name des Medikaments im Moment nicht ein. Er ruft einen Apotheker an und nach einem sehr kurzen Gespräch stellt er ein Rezept aus. Er fordert uns auf, schon in der nächsten Woche zu einer weiteren Behandlung zu kommen und legt mir einen Vertrag vor, der diese regelmäßige Behandlung, die durch die Krankenkasse bezahlt würde, durch einen privaten Beitrag ergänzt.
Verängstigt und verwirrt unterschreibe ich den Vertrag gemeinsam mit meiner Frau. Zuhause angekommen bekomme ich starke Zweifel an der Kompetenz des Arztes. Ich rufe die Ärztin im Krankenhaus an, die mir den Arzt empfahl und erzähle ihr von der Behandlungsmethode des Arztes. Sie versichert mir, der Arzt wäre ihr von einem Kollegen empfohlen worden und ich könne ihm vertrauen.
Der Pflegedienst kommt zweimal täglich, damit sie ihre Tabletten einnimmt. Es kommt oft vor, dass der Pflegedienst unverrichteter Dinge wieder geht, ohne dass sie die Tabletten einnimmt.
Als Folge des Konkurses meiner Firma muss ich unser Familienhaus verkaufen.
Für meine Frau und unsere Töchter bereite ich ein Abschiedsessen. Ein letztes Mal sitzen wir zusammen und nehmen Abschied vom versteckten Garten mit den hohen alten Bäumen und dem Teich mit den Seerosen. In windstillen Nächten können wir die Isar rauschen hören.
Es ist ein wehmütiger Abschied. Der ungepflegte Garten passt zu unserer Stimmung.
Während des Essens steht Fides auf und geht ins Haus.
Auf dem Weg dahin hinterlässt sie eine Spur von Kot. „Mamma was ist mit Dir“, schreien die Kinder.
Sie geht unbeeindruckt weiter.
Die Mädchen weinen. Ihnen wird bewusst, dass ihre Mutter viel kränker ist, als sie bisher annahmen.
„Sie ist inkontinent“, sage ich niedergeschlagen.
Im Haus macht sich seit Tagen Uringeruch bemerkbar. Es ist ein schöner Sommer. Um den Gestank erträglich zu machen, öffne ich immer alle Türen zum Garten.
Meine Töchter weinen, als sie das Haus verlassen.
Ich bin in eine Mietwohnung in der Innenstadt gezogen und kaufte für meine Frau eine Eigentumswohnung am Stadtrand, in der ich für mich ein Büro einrichtete.
2008
Fides war heute einen Tag im Krankenhaus.
Nach langen Mühen konnte ich sie überreden, in das Krankenhaus zurückzugehen. Überzeugen konnte ich sie, weil in den letzten Wochen ihr Gang unsicher wurde und sie mehrmals stürzte.
Am Nachmittag kamen unsere Töchter und ich hinzu. Es wurde eine fortgeschrittene Demenz diagnostiziert. Sie kennt ihren Namen und ihr Geburtsdatum nicht mehr und hat die Namen ihrer Töchter vergessen. Uns wurde nahegelegt, einen Vormund für sie zu bestimmen. Sie war einverstanden, dass ihre beiden Töchter gemeinsam ihr Vormund sind.
Fides lebt jetzt in einem Hochhaus am Stadtrand, in dem ich mein Büro habe. Ich bin viel unterwegs, aber immer ein oder zwei Tage pro Woche einen ganzen Tag im Büro, die Wohnung ist verdreckt. Sie stinkt durchdringend nach Urin. Sie liegt tagsüber auf dem Sofa und sieht fern.
Ich organisierte einen Pflegedienst, der auch die Wohnung reinigt und für sie auch am Mittag kocht.
Alle Versuche des Pflegepersonals, sie zum Tragen von Windeln zu überreden schlagen fehl.
Ich hatte heute einen Termin mit der Leiterin des Pflegedienstes. Sie legt mir nahe Fides in ein Heim zu überstellen und erklärt mir meine Frau wäre so aggressiv, dass sie ihren Mitarbeitern ihre Pflege nicht mehr länger zumuten könne.
Auf einer Veranstaltung für Angehörige dementer Patienten wurde ich auf einen Vortrag aufmerksam. Ein Arzt stellt dort eine Methode vor, mit deren Hilfe demente Patienten, die aggressiv sind und eine Pflege verweigern, so behandelt werden, dass sie eine häusliche Pflege akzeptieren.
Die Methode beruht darauf, mit Medikamenten einen Umbau im Gehirn des Patienten in Gang zu bringen, durch den abgestorbene Zellen, die für Empathie zuständig waren, wiederbelebt werden, zulasten von anderen Zellen.
Er betont, dass dieser Umbau nicht gezielt vonstattengeht, die Medizin weiß nur sehr wenig über den Umbau von Zellen, dass es aber durch Probieren von verschiedenen Medikamenten und unterschiedlichen Dosierungen möglich ist, diesen Umbau zu bewerkstelligen.
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