Auch der Kreationismus, das wortwörtliche Verständnis des Schöpfungsberichtes, teilt sich dem Menschen nicht „von selbst“ mit und wird von der Seele bereitwillig aufgesogen. Deshalb muss die Auffassung, alles Lebendige sei von Gott in einem Akt geschaffen und habe seine Gestalt seitdem nicht verändert, so dogmatisch und fanatisch verkündet werden. Fundamentalisten fallen dadurch auf, dass sie den Mythos für verbürgte Tatsachen halten und keinen Zweifel daran dulden. Glaube aber kommt aus dem Zweifel, der auch sein ständiger Begleiter ist; ohne diesen gibt es keinen Glauben, sondern lediglich bornierte Gewissheit, die nach immerwährender Bestätigung sucht.
Besonders schwer tun sich jene, die beides miteinander vereinbaren möchten: Schöpfung und Wissenschaft. Heraus kommt ein Gott, der einen Milliarden Jahre währenden Prozess angestoßen und dessen momentanes Entwicklungsstadium offenbar von Beginn an gekannt hat. Einen solchen Gott aber braucht eigentlich kein Mensch, wie überhaupt die Vorstellung eines Weltenbaumeisters manche Erkenntnislücke zu füllen vermag, aber nicht dem tieferen menschlichen Bedürfnis entspricht. Menschen benötigen einen Gott, bei dem die Seele – vor allen in den dunklen Stunden – aufgehoben und angenommen ist. Wer auch darauf verzichten kann, kommt dennoch nicht umhin, nach einer Welt vor, hinter und nach der erfahrbaren Wirklichkeit zu fragen. Unser Verhältnis zu Gott , wenn wir ihn denn nicht leugnen, und zum Tode, den wir nicht leugnen können, und unser zeitweiliges Gefangensein in der Liebe sind nur durch etwas hinter der Physis befindliche, philosophisch gesprochen: metaphysisch, zu verstehen. Die Liebe ist als Urkraft denkbar, die aus jener Hinterwelt bis in die Gegenwart strahlt. Die Mythen und die gefühlte Ähnlichkeit der dort geschilderten Phänomene mit unseren Liebesempfindungen sind Zeugnisse dieses immerfort wirkenden Ursprungs.
Reden wir aber von Gerechtigkeit, Recht, Staat, Herrschaft, Notwendigkeit und Freiheit, so mag der Bezug auf Mythen manch hilfreiche Ergänzung verschaffen, das Wesentliche aber erfassen diese nicht. Ja, besonders die Ableitung von Familie und Staat aus dem einen Ursprung führt nicht nur zu Missverständnissen, sondern kann verhängnisvolle Betriebsstörungen in der Realität des Zusammenlebens hervorrufen. Auf die Frage der Gleichheit und Gleichberechtigung von Frau und Mann gibt der Mythos keine Antwort. Sie ist wie jede Frage von Gerechtigkeit und Freiheit letztlich eine der Vernunft, der menschlichen wohlgemerkt, eine göttliche ist mir noch nicht begegnet. Menschliche Vernunft kann irren, das wirksamste Palliativ gegen Irrtum und Fehler ist der Dialog, gegründet auf Respekt, Toleranz und Methode. Märchen und Mythen lassen sich nicht dialogisch erfassen, sondern nur in einer gewissen Einsamkeit deuten.
Lauter Verwechselungen
Die Vermengung von Liebe und Vernunft sorgt für zahllose Missverständnisse.
Eine Ehe wird nicht besser oder schlechter, wenn man sie „vor Gott“, in der Kirche oder wo man ihn sonst vermutet, schließt. Das gibt dem Treueversprechen allenfalls einen feierlichen Rahmen. Der Ehealltag kann aber durch den richtigen Gebrauch der Vernunft erheblich verbessert werden. Übrigens: Es ist blanker Unsinn, sich ewige Liebe zu schwören, weil diese als etwas metaphysisch Gewirktes sich dem menschlichen Willen entzieht. Sie ist ein Geschenk, das verloren gehen kann. Auf keinen Fall eine Leistung des Menschen. Wer die Ehe bricht, kann sich andererseits auch nicht auf die Liebe (zu einem anderen Menschen) berufen. Das eheliche Treueversprechen kommt wie jeder Vertrag, jedes Gelübde, jede Verzichtserklärung aus der Vernunft. Treuebruch ist Vertragsbruch und ist mit (neuer) Liebe ebenso wenig zu entschuldigen wie Zahlungssäumnis mit guter Laune oder schönem Wetter.
Der Verzicht auf Sexualität kann niemals mit der Liebe zu Gott begründet werden. Er hat seinen Ursprung in der Vernunft. Die kann übrigens anders als die Liebe irren. Jeder Priester, der einer Frau folgt und seinen Stand verlässt, korrigiert einen Irrtum der Vernunft. Vielleicht kommt er Gott dadurch ein Stück näher.
Der Versuch, vernünftig zu lieben, führt unweigerlich zum Tod der Liebe. In beständiger Gesellschaft eines Vernunftradikalen verkümmert auch der mit größter Leidenschaft Begabte.
Die grundsätzliche Verschiedenheit von Liebe und Vernunft bestätigt der zweite Schöpfungsbericht auf mysteriöse Weise. Die Vernunfterkenntnis ist bereits als Möglichkeit im Paradies angelegt, als Frucht eines Baumes. Doch macht der Mensch, mehr einem Instinkt als einem göttlichen Verbot folgend, davon vorerst keinen Gebrauch. Die Liebe geht der Vernunft voraus. Zur Erweckung der Erkenntnis – gemeint ist die Episode mit der Schlange und der Baumfrucht - kommt es erst, nachdem die Liebe zwischen Mann und Frau schon vorhanden ist, inklusive der Vereinigungssehnsucht.
Dass die Liebe der Vernunft vorausgeht und deshalb auch völlig unabhängig von dieser wirkt, kann jeder Mensch, der einmal geliebt hat, uneingeschränkt bestätigen. Die Vernunft kommt in einer Beziehung später hinzu, sie macht das Zusammensein im günstigsten Fall beständiger, im ungünstigsten ist sie der Tod der Liebe. In jedem Fall aber nimmt sie der Liebe etwas von ihrer Urgewalt.
Hätte der erste Mensch sich frühzeitig – zu früh - am Baum der Erkenntnis gelabt, gäbe es Frauen lediglich als Duplikate der Männer mit anderen Geschlechtsorganen und vor allem fehlte eines: die Liebe. Wir wären dann alle höchst rationale kleine Gelehrte, hielten die Mathematik wegen ihrer logischen Unbestechlichkeit für das Höchste aller Wesen und würden uns weitgehend mechanisch, nach „vernünftigen“ Kriterien fortpflanzen und zweifellos gesund ernähren. Wir wären so, wie die Bildungspolitik sich den Menschen vorstellt.
Liebe und Vernunft
Wenn wir von der Liebe zur Wissenschaft oder auch zur Kunst sprechen, sollten wir nicht meinen, das analog zur Liebe zwischen zwei Menschen tun zu können. Auch die Liebe der Eltern zu ihren Kinder und der Kinder zu ihren Eltern ist etwas anderes als jenes urtümliche Erkennungserlebnis und jene Vereinigungssehnsucht, von denen der zweite Schöpfungsbericht erzählt. Der alleinerziehende Elternteil versteht das besser als der sich ganz der Wissenschaft Hingebende, ist doch seiner Mutter- oder Vaterliebe gewiss eine Liebe ganz anderer Art vorausgegangen, die durch die Gegenwart der Kinder nicht zu ersetzen ist. Der die Wissenschaft, oder wenn es dazu nicht reicht, seinen Computer Liebende weiß um die Existenz einer Urliebe womöglich gar nicht oder hält sie schlicht für einen Mangel an Vernunft. Wenn es sie oder ihn dann doch erwischt, kann es den Verstand kosten. Keine Liebe erscheint närrischer als die eines Menschen, der zuvor ihre Existenz geleugnet hat.
Wäre das Ur-Paar auf dem Entwicklungsstand nach der Erfindung der Liebe geblieben, gäbe es keine Scheidung, aber auch keine Kinder. Woodstock konnte aber nicht ewig dauern, weil es sich bei den Blumenkindern bereits um vernunftbegabte Wesen mit Verdauung und Kindern handelte. Irgendwann muss der Müll weggeräumt werden und den Kindern eine feste Struktur und warme Mahlzeit geboten werden. Die Kinder von ewigen Blumenkindern sind bedauernswerte Geschöpfe. Um Eltern zu werden, müssen Menschen das Paradies verlassen, was nicht heißt, dass es keine zeitweilige Rückkehr darin gibt. Wer glaubt, das Paradies der Liebe am besten ohne Kinder erhalten zu können und sich willentlich dagegen entscheidet, hat bereits eine „vernünftige“ Entscheidung getroffen; und es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Vernunft das gesamte Beziehungsgeflecht durchwirken wird. Es lässt sich durchaus eine reine Vernunftehe führen, eine Vernunftliebe gibt es nicht.
Wie kann man sich von jungen Jahren an bis in den Tod wahrhaft lieben, wenn schon am Anfang eine Verzichtserklärung steht?
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