Erfolgsstreber, Kalorienzähler, Karriereplaner, Kompetenzförderer, Glücks- und Nutzenmaximierer mögen die Vorstellung von etwas Unbeherrschbarem nicht. Albträume, Angst, Krankheit, Verzweiflung, Depression und Begegnung mit dem Tode erinnern uns daran, dass die Planbarkeit Grenzen hat.
Liebe zeigt jedem, der von ihr befallen und verlassen wird – ob im kurzen Glückstaumel, im tiefsten Leid oder im schmerzlosen Verklingen -, dass es eine Macht außerhalb des Gestaltens, Wollens, Strebens und Machens gibt, die ungefragt die Seele besetzt, beherrscht und wieder aufgibt, ob es passt oder nicht.
1. Kapitel: Die Erfindung der Liebe im Paradies
Der Mensch im Paradies, Genesis 2,4 – 2, 25
4 Als Gott, der HERR, Erde und Himmel machte,
5 gab es zunächst noch kein Gras und keinen Busch in der Steppe; denn Gott hatte es noch nicht regnen lassen. Es war auch noch niemand da, der das Land bearbeiten konnte.
6 Nur aus der Erde stieg Wasser auf und tränkte den Boden.
7 Da nahm Gott, der HERR, Staub von der Erde, formte daraus den Menschen und blies ihm den Lebensatem in die Nase. So wurde der Mensch ein lebendes Wesen.
8-9 Dann legte Gott im Osten, in der Landschaft Eden, einen Garten an. Er ließ aus der Erde alle Arten von Bäumen wachsen. Es waren prächtige Bäume und ihre Früchte schmeckten gut. Dorthin brachte Gott den Menschen, den er gemacht hatte.
In der Mitte des Gartens wuchsen zwei besondere Bäume: der Baum des Lebens, dessen Früchte Unsterblichkeit schenken, und der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte das Wissen verleihen, was für den Menschen gut und was für ihn schlecht ist.
10 In Eden entspringt ein Strom. Er bewässert den Garten und teilt sich dann in vier Ströme.
11 Der erste heißt Pischon; er fließt rund um das Land Hawila, wo es Gold gibt.
12 Das Gold dieses Landes ist ganz rein, außerdem gibt es dort kostbares Harz und den Edelstein Karneol.
13 Der zweite Strom heißt Gihon; er fließt rund um das Land Kusch.
14 Der dritte Strom, der Tigris, fließt östlich von Assur. Der vierte Strom ist der Eufrat.
15 Gott, der HERR, brachte also den Menschen in den Garten Eden. Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen.
16 Weiter sagte er zu ihm: »Du darfst von allen Bäumen des Gartens essen,
17 nur nicht vom Baum der Erkenntnis. Sonst musst du sterben.«
Die Erschaffung der Frau
18 Gott, der HERR, dachte: »Es ist nicht gut, dass der Mensch so allein ist. Ich will ein Wesen schaffen, das ihm hilft und das zu ihm passt.«
19 So formte Gott aus Erde die Tiere des Feldes und die Vögel. Dann brachte er sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er jedes Einzelne nennen würde; denn so sollten sie heißen.
20 Der Mensch gab dem Vieh, den wilden Tieren und den Vögeln ihre Namen, doch unter allen Tieren fand sich keins, das ihm helfen konnte und zu ihm passte.
21 Da versetzte Gott, der HERR, den Menschen in einen tiefen Schlaf, nahm eine seiner Rippen heraus und füllte die Stelle mit Fleisch.
22 Aus der Rippe machte er eine Frau und brachte sie zu dem Menschen.
23 Der freute sich und rief:
»Endlich! Sie ist's! Eine wie ich! Sie gehört zu mir, denn von mir ist sie genommen.«
24 Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben. Die zwei sind dann eins, mit Leib und Seele.
25 Die beiden waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.
(zit. n. Gute Nachricht Bibel)
Wahre Geschichten
Über Ehe und Familie gibt es keine wahren Geschichten. Es gibt taugliche und weniger taugliche, zeitgemäße und weniger zeitgemäße Anschauungen darüber, aber keine, die universelle Gültigkeit beanspruchen könnte. Das hängt damit zusammen, dass Ehe und Familie - aus der Gesellschaft stammend - dem historischen Wandel unterliegen. „Ein weltlich Ding“ eben, wie Luther lapidar vermerkt. Jede Generation bestimmt neu, was darunter zu verstehen sei. In der pluralisierten Gegenwart wird diese Herkules-Aufgabe sogar jedem Individuum, jedem Paar einzeln aufgebürdet – mit dem Resultat, dass immer mehr scheitern.
Geschichten über die Liebe dagegen schöpfen ihre Wahrhaftigkeit aus der Unwandelbarkeit und Unvergänglichkeit ihrer Substanz. Ob Liebe als die edelste aller menschlichen Empfindungen gelten kann, mag dahingestellt sein. Zweifellos ist sie aber die Leidenschaft, die am wenigsten sozialen Veränderungen unterworfen ist und am ehesten Anspruch auf Ewigkeit im Sinne von Wesenhaftigkeit beanspruchen kann. Was nicht bedeutet, dass die Liebe zwischen zwei Menschen unvergänglich sei. Ganz im Gegenteil, oft währt sie kürzer als die Ehe oder der familiäre Zusammenhalt, doch erweist sich ihr Wesenskern in einer wundersamen Weise als zeitlos, so dass man zur Frage nach der Liebe einen 2000 Jahre alten Mythos genauso heranziehen kann wie den Traum der letzten Nacht. Vielleicht ist die Liebe von allen großen Ideen und Wesenheiten, die Theologie oder Philosophie proklamieren, die einzige, deren beständiger Kern nicht nur postuliert wird, sondern durchgängig nachweisbar ist – nicht in der Sozialgeschichte der Menschheit, aber in den überlieferten und täglich neu entstehenden Geschichten, in unser aller Empfinden.
Die Unteilbarkeit der Liebe
Im Glück ist die Liebe eine Angelegenheit zweier Menschen, im unglücklichen Falle nur die einer Person, deren Gefühl unerwidert bleibt. Wir können als Gruppe gemeinsam Freude und Leid empfinden, mit anderen emotional übereinstimmen. Sogar Sex ist in der Gruppe möglich. Liebe jedoch ist unteilbar. Zwei Liebenden ist es nicht möglich, eine dritte oder vierte Person an ihren Gefühlen teilhaben zu lassen, sie sind dabei auf sich gestellt und sondern sich im Falle starker Gefühle sogar ab. Ja, der Verdacht liegt nahe, dass zwei innigst Liebende in ihrem Empfinden letztlich getrennt bleiben. Nur in wenigen außergewöhnlichen Momenten gelingt die Vereinigung, das Vergessen von Ich und Du, die Verschmelzung. Oft nagt der Zweifel. Werde ich in gleicher Weise geliebt wie ich liebe? Für kein anderes Gefühl sucht der Mensch so angestrengt nach Beweisen im Tun und Lassen der Person, deren Liebe man ersehnt. Auch sich selbst prüft der Mensch: Ist es wirklich Liebe, was ich empfinde?
Im Liebesleid wird ein Verlassener, Verletzter zum denkbar einsamsten Menschen der ganzen Welt. Eine Synchronisation mit den Gefühlen anderer ist unmöglich. Somit trifft die Unteilbarkeit der Liebe das Erste und Letzte dessen, was über sie überhaupt ausgesagt werden kann.
Bei vielem, was unser Leben bestimmt, wird dessen Bedeutung erst offenbar, wenn es schwindet, verloren geht oder mutwillig zerstört wird. Den schuldhaften Bruch der Freundschaft nennen wir Verrat, die schuldhafte Verletzung der Liebe Betrug. Im ersten Falle wird ein Konsens, eine (vielleicht unausgesprochene) Vereinbarung gebrochen, im zweiten ein Heiligtum zertrümmert. Freundschaft beruht auf wechselseitigem Verstehen und einem Mindestmaß an Übereinstimmung, Liebe in ihrer prinzipiellen Unteilbarkeit bedarf keines Konsenses, keiner Gleichheit, keines Gleichklangs. Nicht die Sehnsucht nach Verständigung und Übereinkunft, sondern die nach Vereinigung treibt sie an. Das macht sie brüchiger als Freundschaft. Von Liebe allein kann deshalb eine dauerhafte Beziehung zwischen zwei Menschen nicht gespeist werden.
Wie mächtig Liebe tatsächlich ist, spürt ein Mensch zuerst im Augenblick ihres Entstehens und dann wieder im Vergehen, so wie die Sonne unsere größte Aufmerksamkeit dann erweckt, wenn sie auf- oder untergeht. Niemand käme auf die Idee, sie zu beobachten und sich an ihrer Schönheit zu erfreuen, wenn sie mitten am Tag ihren Dienst als Wärmequelle und Lichtgeber tut. Wir nehmen dankbar an, dass sie die uns umgebenden Dinge und uns selbst erkennen lässt, oder genießen nach dunklen Tagen ihre Wärme – am besten mit geschlossenen Augen. In ihrem „An-sich-Sein“ aber beschäftigt sie uns vorrangig in den Momenten ihres Erscheinens und Verschwindens. Hier liegt die Faszination für den Sonnenauf- und Untergang verborgen, nur hier wird die Sonne als Sonne gesehen - und nicht hinsichtlich der Zwecke, die sie erfüllt.
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