„Ist es wirklich so schlimm?“, fragt Lydia erstaunt. „Ich dachte, ich träume meistens nur still vor mich hin … zumindest habe ich das gehofft. Und nun bestätigst du mir, dass es nicht so ist.“
„Ich habe von zwei bis vier Uhr meine Wachphase, und du sorgst ganz schön für Unterhaltung.“
Lydia wird rot. „Oh je. Tut mir leid … ich …“
„Dafür kannst du doch nichts. Du musst da eben durch, wie alle hier“, sagt Elfi. „Ingrid hat schon öfter nachts für Aufregung gesorgt. Sie wurde scheinbar von Furien gehetzt und rannte schreiend durch das ganze Haus, sodass alle geweckt wurden. Auch das hat sich gegeben.“
„Oh Gott“, sagt Lydia zutiefst schockiert.
Elfi schmunzelt. „Jeder Mensch muss irgendwie gegen seine Dämonen kämpfen und mit denen ins Reine kommen. Du bist deinen nicht mehr allein ausgeliefert, sondern bekommst hier Unterstützung. Das sollte dich beruhigen.“
„Letzte Nacht fühlte ich mich von einer Riesenschlange beobachtet“, erzählt Lydia. „Das war unheimlich, denn ich habe sie nicht gesehen, ihre Anwesenheit nur gespürt. Irgendwann stürzte sie sich blitzschnell auf mich und erstickte mich fast.“
„Hmm“, macht Elfi und schmunzelt. „Frag mal Ingrid. Sie ist Fachfrau für Traumdeutungen. Die kann dir das genauer erklären. Ich würde darauf tippen, dass das Vieh für deinen Verfolger steht, der dich zum Schweigen bringen will.“
„Aber das ist doch schon so lange her“, sagt Lydia ungläubig.
„Du hast ein altes, nicht aufgearbeitetes Problem und ganz schön daran zu knabbern.“
Lydia nickt und beginnt zu erzählen: „Als ich sechzehn war, habe ich mich in einen Jungen verliebt, und das mit so einer Wucht, dass mir im wahrsten Sinn Sehen und Hören verging. Heute schätze ich die Situation auch anders ein und weiß, dass er nur ein Macho war und alle Mädchen, die sich auf ihn eingelassen haben … na, du weißt schon. Nur einmal habe ich ihm nachgegeben, und schon war es passiert. Ich war schockiert, weil er bereits am nächsten Tag so tat, als würde er mich nicht kennen und mit der Nächsten vor meiner Nase rummachte. Ich verstand die Welt nicht mehr und war verzweifelt.“
„Die jugendliche Liebelei bringt doch fast jeden durcheinander“, stellt Elfi fest und schmunzelt. „Wenn ich an meine erste große Liebe denke, bin ich froh, dass er bis heute nichts davon weiß. Zum Glück.“
„Die hat bei dir bestimmt keine Folgen hinterlassen“, sagt Lydia. „Meine Eltern haben mir die Hölle heiß gemacht. Kaum war mir bewusst, dass ich wirklich schwanger war, lag ich schon im Krankenhaus und wurde zur Abtreibung gezwungen.“
„Oh Gott“, sagt Elfi schockiert und fügt leise hinzu, „das ist ja furchtbar.“
„Zwanzig Jahre ist das her“, sagt Lydia. „Trotzdem kann ich mich noch an fast jedes Detail erinnern, obwohl ich damals das Gefühl hatte, in Trance zu sein.“
Sie schüttelt leicht den Kopf, um die Erinnerungen zu verdrängen, was ihr natürlich nicht gelingt. Erstaunt muss sie feststellen, dass sie Elfi so spontan davon erzählen konnte, denn bisher hat sie über diesen Vorfall nur mit ihrer Freundin Christine und der Ärztin, die sie von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugt hat, sprechen können.
Elfi schaut zur Uhr und erschrickt.
„Oh, wir müssen los. Schließlich sind wir nicht zur Erholung hier. Zum Glück sorgt der Therapieplan laufend für Abwechslung, sonst würden wir aus dem Grübeln gar nicht rauskommen.“
Unverzüglich machen sie sich auf den Weg zum Entspannungsraum.
Lydia kann das autogene Training noch nicht genießen, denn ihre Seele ist gewaltig in Aufruhr. Die Erinnerungen schießen ständig in ihr Bewusstsein und vermischen sich mit den Empfehlungen, die ihr Frau Doktor Lachmann-Friedrich gegeben hat. Sie bemüht sich, die Tipps anzuwenden, kann sich jedoch nicht auf die Entspannung konzentrieren.
Sowie der Therapeut sie auffordert, das Training zu beenden, stellt sie fest, dass sie unruhiger denn je ist und sich wie gerädert fühlt.
Da Elfi anschließend an der Gruppentherapie teilnehmen möchte, geht Lydia allein ins Zimmer zurück. Als sie sich umschaut, bleibt ihr Blick am Nachttisch hängen, auf dem ihr nagelneues Tagebuch liegt.
Sie überlegt kurz und beginnt zu schreiben. Schon bald fliegt der Stift regelrecht übers Papier.
Nachdem sie alles, was ihr in diesem Augenblick wichtig erschien, notiert hat, dreht sie sich zur Wand und ist unmittelbar darauf eingeschlafen.
Als Elfi zurückkommt und die beschriebenen Seiten in Lydias Tagebuch sieht, grinst sie.
„Es ging wirklich wie von selbst“, bestätigt Lydia, die durch das Geräusch der sich öffnenden Tür wach geworden ist. „Ich bin froh, dass ich mit dir das Zimmer teile und du mich ständig beruhigst und vorwarnst.“
„Ach“, währt Elfi ab, „bei Ingrid wärst du sicher auch gut aufgehoben. Sie würde dir die Karten legen und bestimmt nur gute Dinge für dich voraussehen, egal was die Karten sagen. Notfalls würde sie deine Zukunft einfach in die richtige Richtung pendeln.“
Lydia grinst und erwidert: „Na ja, Ingrid ist bestimmt keine Hilfe. Trotzdem muss es ein Albtraum sein, in einem Einzelzimmer zu wohnen. Irgendwie würde ich mir da verloren vorkommen. Ich bin ganz froh, mit dir zusammen sein zu können.“
„Es kommt eben darauf an, dass die Chemie zwischen den Patienten, die sich ein Zimmer teilen müssen, stimmt. Wenn ich ständig Ingrids Nähe ertragen müsste, wäre mir das bestimmt unheimlich, und ich könnte nachts kein Auge zumachen. Die lässt einem ja keine Ruhe mit ihren Geschichten und der ganzen Hexerei.“
„Hexerei hin oder her“, sagt Lydia. „Bei unserem Klassentreffen habe ich eine ehemalige Mitschülerin wiedergetroffen, die als Heilpraktikerin tätig ist. Sie hat mit Begriffen um sich geworfen, dass so mancher sogar vermutete, dass sie eine Zigeunerin ist. Na ja, ihr Aussehen hat natürlich auch etwas dazu beigetragen. Ich bekam mit der Zeit jedoch den Eindruck, dass sie weiß, wovon sie spricht.“
„Heilpraktiker haben ja auch eine Ausbildung. Unsere Hexe hatte nur eine Erleuchtung für ihren Hokuspokus. Darin liegt ein kleiner Unterschied.“
„Ich werde versuchen, die sich eventuell ergebenden Gespräche mit Ingrid abzukürzen und nicht ernst zu nehmen“, sagt Lydia. „Obwohl ihre verrückten Geschichten für mich vielleicht interessant sein könnten.“
„Inwiefern?“
„Na, für einen meiner nächsten Romane.“ Lydia grinst. „Über eine Hexe habe ich noch nie geschrieben.“
„Hmm“, macht Elfi. „Ich würde gern ein Buch von dir lesen. Hast du zufällig eins dabei?“
„Ja. Sogar das neueste mit dem Titel `Lebt wohl, Familienmonster´. Das ist die Geschichte von meinen Urlaubsbekannten.“
Lydia geht zu ihrem Schrank und nimmt es heraus.
Als Elfi sich das Titelbild anschaut, grinst sie und sagt: „Upps. Der Mond strotzt ja vor lauter Begeisterung.“
Lydia nickt. „Ich hatte mir viele Gedanken gemacht, wo ich die Familienmonster ablade. Die Idee mit dem Mond kam mir gerade recht. Der kann sich nicht wehren und muss zusehen, wie er mit denen klarkommt.“
„Man sagt ja nicht umsonst: `Ich würde dich am liebsten auf den Mond schnipsen´, wenn man jemanden loswerden will“, sagt Elfi lächelnd. „Auf diese Idee sind schon andere gekommen, die mit ihren unliebsamen Verwandten oder Bekannten nicht wissen wohin.“
Читать дальше