„ Was mache ich nur immer noch hier?“ , fragt sie sich zum wiederholten Male. „Warum tue ich mir das an? Warum packe ich nicht einfach meine Sachen? Ich will nach Hause!“ Sie lächelt gequält und appelliert an ihre Vernunft. „Lydia, du gehst jetzt da rein! Du bist kein kleines Kind mehr. Bring es endlich hinter dich.“
Bevor sie es sich anders überlegen kann, klopft sie an. Etwas zaghaft und dementsprechend leise, aber immerhin. Genau in dem Moment, als ein Fünkchen Hoffnung in ihr aufkeimen will, dass die erste Stunde ausfällt und ihr die Offenbarung vorerst erspart bleibt, vernimmt sie ein freundliches: „Herein.“
Zaghaft öffnet sie die Tür und verschafft sich einen Überblick. Sie ist erstaunt darüber, kein steriles Sprechzimmer vorzufinden, und gleichzeitig über die gemütliche Einrichtung des Raumes überrascht. Frau Doktor Lachmann-Friedrich sitzt am Schreibtisch und sieht Lydia erwartungsvoll entgegen. Mit einer Handbewegung fordert sie sie auf hereinzukommen. Lydia verspürt einen dicken Kloß im Hals und lässt sich auf dem Therapiestuhl nieder.
„ Eigentlich gleicht der eher einem überdimensionalen Chefsessel“ , denkt sie und muss feststellen, dass er sogar sehr bequem ist. „Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass diese Wohlfühlatmosphäre nur vorgetäuscht ist? Warum komme ich mir eigentlich vor wie ein Schwerverbrecher vor seinem Richter?“
Ihr Herz rast, und die ersten Schweißperlen sammeln sich auf ihrer Stirn. Sie umklammert die Armlehnen, als würde sie in einem Schleudersessel sitzen und müsse befürchten, dass der gleich abheben wird.
Frau Doktor Lachmann-Friedrich schaut sie aufmunternd an und signalisiert ihr mit einem leichten Kopfnicken zu beginnen.
Da Lydias Mund vor lauter Aufregung ausgetrocknet ist, räuspert sie sich und krächzt: „Also … ich … äh …“
Bereits nach einer halben Stunde huscht sie in ihr Zimmer, als würde sie verfolgt werden. Elfi ist gerade dabei sich umzuziehen. Weil Lydia den Eindruck erweckt, etwas Schreckliches erlebt zu haben, schaut Elfi sie erstaunt an und fragt: „War es so schlimm?“
Lydia nickt … denkt kurz nach … zuckt mit den Schultern … schüttelt den Kopf und sagt: „Eigentlich nicht.“
„Na, siehst du. Glaube mir, es wird mit jedem Mal leichter.“
„Hoffentlich.“
„Ich gehe jetzt zum autogenen Training und drehe danach noch eine Runde um den See. Falls du nachher nichts anderes vor hast, kommst du einfach zum Entspannungsraum und holst mich ab. Dann können wir gemeinsam spazieren gehen.“
„Mal sehen.“
Lydia legt sich auf ihr Bett. Im Moment hat sie das Gefühl, eine Bowlingkugel verschluckt zu haben, und dreht sich auf die Seite. Ihre Gedanken schwirren im Kopf herum und mischen sich ab und zu mit ein paar Worten, die Frau Doktor Lachmann-Friedrich zu ihr gesagt hat. Je mehr sie über das Gespräch nachdenkt, umso aufgewühlter wird sie. Nach einer Weile fällt sie in einen unruhigen Schlaf.
Es ist bereits dunkel, als Lydia wieder zu sich kommt. Sie knipst ihre Nachttischlampe an und setzt sich auf. Ein Teller mit belegten Brötchen steht auf dem Tisch. Daneben liegt ein Zettel.
Elfi hat ihr das Abendessen mitgebracht und eine Nachricht hinterlassen: „Hallo, Lydia. Ich hatte nach meinen Gesprächs-Schlaf-Attacken immer Hunger. Falls es dir auch so geht, dann lass es dir schmecken. Ich bin im Fernsehraum. Bis nachher. Elfi“
Lydia spürt ihren Magen grummeln und ist Elfi dankbar. Mit wenig Appetit greift sie nach einem Käsebrötchen und beißt hinein.
Als sich die Tür öffnet, ist sie froh, dass sie nicht mehr allein ist.
„Ich wollte dich vorhin nicht wecken“, sagt Elfi entschuldigend.
„Danke. Ich habe geschlafen wie … wie tot“, antwortet Lydia.
„Meine Gesprächstherapie habe ich am Anfang wie Schwerstarbeit empfunden“, erklärt Elfi ihr. „Zwar nicht körperlich, aber seelisch, und das strengt den Körper genauso an, als hätte ich eine Menge ungewohnter anstrengender Arbeiten erledigt. Sicher wird dir auch bald alles wehtun, sodass du denkst, du bist ziemlich krank. Ich habe da jahrelang so einiges durch. Starke Kreuzschmerzen haben mich zum Arzt kriechen lassen, als wäre ich hundert Jahre alt. Er untersuchte mich und stellte fest, dass alles in Ordnung ist. Wie nach einer wundersamen Heilung, hüpfte ich von der Pritsche und konnte wirklich wieder aufrecht gehen.
Bereits kurze Zeit später plagten mich heftige Kopfschmerzen. Ich war davon überzeugt, dass die nur von einem Hirntumor stammen konnten. Wieder habe ich mich beim Arzt lächerlich gemacht. Nicht mal ein Zipfelchen irgendeines Gewüchses, das da nicht hingehört, wurde gefunden.
Also verflüchtigten sich die Kopfschmerzen, und bald darauf spielte mein Magen-Darm-Trakt verrückt. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum ich mich ständig so mies fühlte. Jahrelang habe ich geschlafen wie eine Tote. Früh kam ich jedoch kaum aus dem Bett. Das Frühstück zu machen, war bereits eine beinahe unüberwindbare Hürde. Im Supermarkt bekam ich Herzrasen und Schweißausbrüche und konnte mir das nur damit erklären, dass ich herzkrank bin und sicher bald sterben muss … so elend war mir zumute. Mir graute es mit der Zeit davor, das Haus zu verlassen, sodass ich mich wie eine Gefangene fühlte.“
„Oh Gott, da steht mir ja noch etwas bevor. Jetzt habe ich bloß das Gefühl, eine Bowlingkugel verschluckt zu haben.“
Elfi nickt und erklärt Lydia: „Das sind nur deine verkrampften Nerven. Du solltest am autogenen Training teilnehmen. Dort lernst du, dich zu entspannen. Mit der Zeit wird aus dem harten Ding in deinem Bauch ein Gummiball und später ein Wattebällchen und irgendwann ist das Ding weg.“ Lydia schaut Elfi zweifelnd an, sodass diese weiterspricht. „Vertraue mir einfach. Ich habe das alles durch und bin eine Expertin. Hast du immer noch Angst vor den Gesprächen mit LF?“
Lydia schüttelt den Kopf. „Eigentlich nicht, bloß ein ungutes Gefühl. Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll, weil meine Gedanken noch alle durcheinander kreisen. Sowie ich jedoch einen Anfang gefunden habe, sprudelt alles wie von selbst aus mir raus. Etwas bin ich darüber überrascht, dass der Therapieraum fast gemütlich eingerichtet ist, und der Sessel ist dermaßen bequem, dass ich hoffe, darin nicht einfach mal einzuschlafen.“
„Hattest du eine Folterkammer erwartet?“, fragt Elfi und lacht laut auf. „Lydia, du machst dir alles schwerer als nötig. Grüble nicht so viel. Das schlägt nur Falten in dein Antlitz, und das wiederum wäre schade um dein noch jugendliches Aussehen. Versuche einfach, deinen Aufenthalt positiv zu sehen und vielleicht etwas zu genießen. Umso eher kannst du wieder nach Hause.“
Lydia seufzt. „Ich werde mich bemühen. Aber jetzt muss ich schlafen.“
Elfi hat sich unterdessen fürs Bett fertig gemacht und kuschelt sich in ihre Decke.
„Gute Nacht“, sagt sie zu Lydia, „und träum was Schönes.“
„Ha, ha“, macht Lydia. „Ich kann leider nicht beeinflussen, inwieweit meine lebhaften Träume mich ruhig schlummern lassen. Hoffentlich wecke ich dich nicht.“
„Wetten, dass du das nicht schaffst“, entgegnet Elfi. „Bestimmt bin ich eher wach, als du aus deinem Gruselkabinett gekrochen kommst.“ Sie zwinkert Lydia zu. „Mach dir nicht so viele dunkle Gedanken. Schieb sie einfach weg und konzentriere dich auf die Dinge, die dir Spaß machen.“
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