Zehn Minuten später saßen sie in der Kutsche des alten Burgverwalters. Glücklicherweise war Johann gerade von einem kurzen Ausflug ins Dorf zurückgekehrt, so dass sie keine Zeit damit verloren, erst noch Pferd und Kutsche fahrbereit zu machen. Während sie durch den Wald fuhren, der sich um die Burg herum erstreckte, beobachtete Anna Leo. Irgendwie wurde sie aus ihm nicht schlau. Er war anders als die Männer, die sie vor ihm kannte. Anders auf eine Art, die sie nicht genau beschreiben konnte. Dazu kam noch ihre steigende Besorgnis, was sie ihm am gestrigen Abend alles auf ihrem Weg zur Burg erzählt haben mochte. Ihren Namen, wer sie war, den Umfang ihres Erbes, ihre Begeisterung für ihr neues Smartphone und damit verbundene Furcht auf Burg Rittertal nicht mal eine Steckdose zum Aufladen zu finden… Wie hatte er das nur angestellt, dass sie ihm gestern Abend so sehr vertraute? Und wieso erinnerte sie sich an nichts mehr? Lächelnd schaute Leo sie an. Als ob er ihre Gedanken erraten hätte… Seine glitzernden grünen Augen betrachteten sie übermütig. Es waren wunderschöne Augen, in denen sie sich am liebsten verloren hätte. Und sein Lächeln. Es war wirklich umwerfend. Wann immer er sie so ansah konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Ob er sie so auch gestern Abend ausgefragt hatte? Unsinn, schalt sie sich. Das würde immer noch nicht erklären, warum sie sich an nichts mehr erinnern konnte.
Um sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen, setzte sie sich gerade auf, schaute stur auf den Waldweg vor ihnen, der allmählich in die sandige Dorfstraße überging und begann, den Spieß umzudrehen. Jetzt würde sie ihn ausfragen. Lächelnd beugte sie sich vor. „Aber nun haben wir genug von mir geredet. Erzähl mir etwas von dir.“ Lachend warf Leo den Kopf in den Nacken. „Du lernst schnell. Gut. Was möchtest du wissen?“ - „Alles. Was du hier machst, wo du herkommst, ob du verheiratet bist, ob du Kinder hast. Einfach alles.“ Verschmitzt beobachtete sie ihn von der Seite und errötete, als er sie ebenfalls anlächelte. Mit seinem umwerfenden Lächeln. Anna konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann mit so viel Charme getroffen zu haben. Er wirkte so umwerfend, so entwaffnend, so…anziehend. Diese grünen Augen, sein ebenmäßiges Gesicht, sie hatte das Gefühl, sich darin zu verlieren. Wie machte er das nur? Ob das Liebe auf den ersten Blick war? Wenn man sich von jemandem vom ersten Augenblick an so angezogen fühlte, dass man zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war? Leos Stimme ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. „Warum wechseln wir uns nicht ab? Du stellst eine Frage und ich beantwortete sie dir, danach stelle ich dir eine Frage und du antwortest, und so weiter?“
Überrascht schüttelte sie den Kopf. „Aber dann bist du immer noch im Vorteil! Du hast gestern Abend schon so viel über mich erfahren… Diesen Vorsprung kann ich so ja gar nicht mehr aufholen.“ Mit gespielter Empörung knuffte sie ihn in die Seite und wollte gerade dazu übergehen, sich weiter zu beschweren, als er sie mit seiner nächsten Frage völlig aus der Bahn warf. „Bist du eigentlich noch zu haben?“ Verdutzt schaute Anna ihn an. „Musst du darüber nachdenken?“ Mit spöttisch blitzenden Augen beobachtete Leo sie. Irritiert schüttelte Anna den Kopf. „Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur so, dass mich noch keiner so direkt gefragt hat, ich meine so schnell gefragt hat.“ - „So direkt oder so schnell gefragt hat?“ - „Was? Ähm, beides.“ - „Aha. Und?“ - „Was und?“ Wieder lachte Leo. „Kann ich mir noch Hoffnung machen?“ - „Ja, also nein. Also, das heißt, ich bin nicht verheiratet.“ - „Aber du hast einen Freund?“ - „Nein, nein.“ Meine Güte, was redete sie nur für einen Stuss! Nicht verheiratet! Danach hatte er doch gar nicht gefragt, sondern wollte allgemein wissen, ob sie mit irgendjemandem liiert war. Ob nun verheiratet oder nicht, so genau hatte er sich gar nicht erkundigt. Jetzt glaubte er bestimmt, dass sie leicht beschränkt war. Besser sie hielt für den Rest der Fahrt den Mund. In seiner Gegenwart konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Und noch mehr blamieren wollte sie sich nun wirklich nicht. Unsicher verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte lippenkauend auf den Weg vor ihnen.
Nach knapp zwei Stunden hatten sie die Stadt erreicht, in der sich das Polizeirevier und damit das Büro von Kommissar Baier befand. Mit klopfendem Herzen betrat Anna das mehrstöckige Gebäude. Wenn nur alles gut ging! Obwohl sie sich nichts vorzuwerfen hatte, hatte sie doch beim Betreten des Gebäudes ein seltsames Gefühl beschlichen. Leo, der ihre Nervosität bemerkte, nahm sie sachte am Arm und führte sie durch die vielen Gänge bis zum Büro des Kommissars. Als sie anklopften, ertönte sofort ein „Herein“. Leo, der schützend vor Anna stand, öffnete die Tür und zog Anna hinter sich her. „Frau Wolfstöter hatte Sie bereits angerufen. Es geht um gestern Abend. Nachdem Frau Wolfstöter in Rittertal angekommen war, habe ich sie zum Rittergut begleitet. Sie hat also mit dem Verschwinden von ihrer Tante nichts zu tun.“
Kommissar Baier saß an seinem Schreibtisch und hatte mit unbeweglicher Miene zugehört. Was er zu hören bekam, verbesserte seine Laune nichts gerade. Er glaubte dem jungen Mann kein Wort. Heute Morgen noch war der jungen Frau auf der Ritterburg alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, als er sie darauf hinwies, dass sie ohne Alibi durchaus als Tatverdächtige in Frage kam und nun auf einmal marschierte sie mit einem vermeintlichen Zeugen in sein Büro. Also verzog er nur missmutig das Gesicht und wies Anna an, bitte draußen zu warten. Als diese nur unsicher Leo anblickte, verdeutlichte er mit einer verächtlichen Handbewegung seine Anweisung. Er war es schon lange nicht mehr gewohnt, dass seinen Anordnungen nicht sofort Folge geleistet wurde. Unsicher blickte Anna Leo an. Der nickte nur und gab ihr flüchtig einen Kuss auf die Wange. Anna wurde rot und nickte schüchtern. „Ich warte draußen bei der Kutsche.“ Plötzlich war ihr einfach nur noch übel in dem stickigen Büro und sie brauchte dringend frische Luft. Irritiert zog Kommissar Baier die Augenbrauen hoch. Hatte er es sich doch gleich gedacht! Zwischen den beiden lief was! Wieso sonst sollte der junge Mann Frau Wolfstöter auf die Wange küssen und ihr dabei so tief in die Augen blicken? Deshalb auch die entlastende Aussage. Er würde Stein und Bein darauf verwetten, dass die junge Frau nach ihrer Ankunft in Rittertal nicht eine Sekunde mit dem jungen Mann zusammen war. Jetzt musste er es den beiden nur noch beweisen…
Mit hochrotem Kopf verließ Anna das Gebäude. Er hatte sie geküsst! Zwar nur auf die Wange, aber das war immerhin ein Anfang. Vor freudiger Erregung zitternd wickelte sie ihre Jacke um ihren Körper und strahlte über das ganze Gesicht. Sie strahlte immer noch, als sie aus dem Eingang kam und auf die Kutsche zu ging, die Leo einfach auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Versonnen lächelnd kraulte sie das Pferd hinter den Ohren und sah sich um. Es war die nächstgrößere Stadt, in der sich die Polizeistation befand. Ehrlich gesagt hatte sie es sich größer vorgestellt. Dass ein solch kleiner Ort bereits Stadtrechte haben sollte erstaunte sie ebenfalls. Wahrscheinlich irgendein Überbleibsel aus dem Mittelalter. Tröstlich war nur, dass es offenbar alles gab. Vielleicht sollte sie nicht immer alles mit ihrer Heimatstadt Berlin vergleichen.
Gedankenverloren beobachtete sie das bunte Treiben in der kleinen Fußgängerzone mit den vielen kleinen Geschäften, die sich vor ihrer Nase erstreckten. Doch plötzlich stutzte sie. Gerade als sie neugierig den Eingang eines doch sehr altertümlichen Tischlereibetriebes betrachtet hatte, ging die Tür auf und ein junger Mann war herausgetreten. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, wenn der junge Mann nicht über irgendetwas gestolpert wäre. Vor Schreck ließ er das dick verschnürte Paket, das er unter dem Arm trug, fallen. Mit einem lauten Poltern fiel es auf den Boden und die Verpackung brach auf. Zum Vorschein kamen unzählige angespitzte Holzpflöcke. Es mussten mindestens hundert sein. Was wollte man denn nur mit so vielen Holzpflöcken? Völlig irritiert starrte Anna auf den jungen Mann, der nun hektisch begonnen hatte, die schön gespitzten Pfähle aufzusammeln und flink in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Dabei sah er sich nach allen Seiten nervös um und verschwand dann im Laufschritt in einer Seitenstraße.
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