„Wie geht es dir? Kannst du laufen?“ Noch immer von leichten Schwindelgefühlen geplagt, nickte Anna vorsichtig und hielt sich Hilfe suchend an seinem muskulösen Unterarm fest. Wieder blickte er ihr tief in die Augen. Anna wurde ganz mulmig zumute. Das Grün seiner Augen war so intensiv, sie könnte ihn ewig so anschauen… Leicht amüsiert räusperte Leo sich. „Da ist noch etwas. Wir müssen uns eine Erklärung überlegen, warum du diese beiden Löcher am Hals hast. Von dieser Begegnung solltest du besser niemandem erzählen. Es würde dir ohnehin niemand glauben. Die Leute würden dich für verrückt erklären, wenn du ihnen von einem blutsaugenden Fremden, der in euren Kellern herumschleicht, erzählen würdest.“ Daran hatte Anna noch gar nicht gedacht. Sie würde diesen Übergriff der Polizei melden müssen. „Aber ich habe doch einen Zeugen! Du hast es doch auch gesehen!“ Leo hob eine Augenbraue. Ein trauriger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. „Bedaure, aber ich werde mich nicht lächerlich machen. Solltest du jemandem etwas davon erzählen, werde ich nur bestätigen, dich blutend allein am Boden gefunden zu haben.“ Schockiert starrte Anna ihn an. Hatte sie eben gerade richtig gehört? Leo wollte ihr nicht helfen? Als habe er ihre Gedanken gelesen, strich er ihr liebevoll über die linke Wange. „Verzeih, aber ich habe meine Gründe. Gründe, die du nicht verstehen würdest.“
Nicht verstehen würdest? Aber hatte nicht die andere Person ihn mit „Cousin“ angesprochen? Ungläubig schüttelte Anna den Kopf und stieß Leos Hand weg. „Was soll das heißen, du hast deine Gründe? Der Mann, der mich vor einigen Minuten attackiert hat, sprach dich mit 'Cousin' an. Du weißt also sehr wohl, wer das eben gerade war und willst es nicht bei der Polizei bestätigen.“ Bitterkeit stieg in ihr auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ausgerechnet jetzt fiel ihr in diesem Zusammenhang auch noch ihr fehlendes Alibi für die zwei Stunden am gestrigen Abend ein. Was, wenn Leo ihr auch hierbei nicht helfen würde? Ihr Entsetzen musste sich wohl auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Leo sah sie fragend an. „Ist noch was?“ Sie wollte sich abwenden, doch er hielt sie am Oberarm fest. „Was ist los?“
Mit vor Wut blitzenden Augen starrte sie ihn an, nahm seine Hand von ihrem Arm und machte auf dem Absatz kehrt. Zumindest versuchte sie es, aber sie hatte nicht mit Leos Reaktionsschnelle gerechnet. Blitzschnell hatte er seinen Arm um ihre Taille geschlungen und drehte sie zu sich um. Mit der anderen Hand hob er wieder ihr Kinn an und zwang sie, ihn anzusehen. „Was ist los? Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du ein Problem hast.“ Als Anna ihn so vor sich stehen sah, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Vielleicht lag es aber auch an dem Übergriff des Fremden von vorhin, schließlich war es nicht alltäglich, von einem blutsaugenden Unbekannten angegriffen zu werden. Schniefend nickte sie und begann mit knappen Worten vom Besuch der Polizei und deren Verdacht, sie könnte an dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tante beteiligt sein, zu erzählen. Als sie fertig war, lächelte Leo sie an.
Beruhigend fasste er sie bei den Schultern. „Ungelogen habe ich dich gestern Abend bereits eine Weile beobachtet, genauer gesagt seitdem du die Hauptstraße entlang kamst und in den Wald gelaufen bist. Ich wollte mich nicht aufdrängen, also habe ich dich nicht angesprochen. Erst als ich dich vor dem Wolf beschützt habe, habe ich mich zu erkennen gegeben. Du siehst also, dass du dir keine Sorgen machen musst.“ Anna fiel ein Stein vom Herzen. Also hatte sie tatsächlich einen Zeugen, der ihre Unschuld bei der Polizei bestätigen konnte. Vielleicht würde er es sich mit dem Überfall heute ja auch noch einmal anders überlegen… Als sie eine Frage in dieser Hinsicht stellte, erntete sie jedoch nur erneute Ablehnung. Anna verstand das nicht. Wieder strich Leo ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du würdest es nicht verstehen, vertrau mir. Diesen Vorfall kannst du nicht der Polizei melden. Du würdest dir selbst schaden, niemand würde dir glauben, wenn du einen blutsaugenden Fremden beschuldigen würdest, dich überfallen und dein Blut getrunken zu haben. Außerdem würde ich meinerseits erst recht nicht zugeben, solch eine Person zu kennen bzw. von einer solchen mit 'Cousin' angesprochen zu werden.“ Anna schluckte. Nun fasste Leo sie sanft an den Schultern und schüttelte sie leicht. „Stell dir doch mal vor, wie du einem Polizisten diesen Vorfall beschreiben würdest?“ Leo wurde allmählich unruhig. Anna hatte etwas erlebt, das durchaus real war, jedoch niemals irgendwo ernst genommen werden würde. Er wusste nur zu gut, dass sie die Wahrheit sprach, aber er wusste noch zu wenig von ihr, um ihr trauen zu können. Niemals würde er bei der Polizei diesen Vorfall bestätigen. Fast schon mitleidig schaute er auf die junge Frau runter, die mehr als zwei Köpfe kleiner war als er und nun einen wirklich erbosten Gesichtsausdruck zur Schau trug.
Hinter Annas Stirn arbeitete es. Irgendwie hatte Leo sogar recht. Was sollte sie einem Polizisten denn erzählen? Dass sie in einem alten Keller von einem Vampir angezapft worden war? Bestenfalls würde sich die gesamte Polizeiwache über sie amüsieren, aber glauben, glauben würde ihr niemand. Sie schluckte, dann nickte sie langsam. „Du hast recht, niemand würde es mir glauben.“ Doch noch während sie diese Worte sprach kam ihr irgendetwas eigenartig vor. Wieso hatte Leo nicht genauso verstört auf diesen Vorfall reagiert wie sie selbst? Es war, als habe er eine gewisse Routine mit Angelegenheiten dieser Art… Anders ließ sich sein Verhalten nicht beschreiben. Aufmerksam sah sie ihn an. Er jedoch erwiderte ihren Blick mit einem unverfänglichen Lächeln. Doch hinter seinem Lächeln verbarg er seine große Besorgnis darüber, dass es ausgerechnet Anna getroffen hatte. Ausgerechnet. Jedem anderen Bewohner der Burg wäre von alleine klar gewesen, dass diese Art der Bedrohung nichts ist, das man bei der Polizei anzeigen kann, sondern etwas, das auf andere Weise gelöst werden musste. Aber Anna war erst seit gestern auf der Burg. Als nach dem Tod ihrer Mutter ihre Existenz bekannt wurde, hatte er zumindest am Rande mitbekommen, dass sie ohne jegliches Wissen über das mütterliche Erbe groß geworden war. Mittlerweile vermutete er, dass das auch ihr Nichtwissen um die Existenz von Vampiren betraf. Das könnte sie zu einem Problem werden lassen. Ausgerechnet die Frau, die sein Herz so hoch schlagen ließ wie schon lange keine mehr vor ihr. Er wollte alles andere, als sie gegen ihn und Seinesgleichen aufbringen. Aber daran wollte er jetzt lieber noch nicht denken. Vielmehr sollte er sie besänftigen und ihr wirklich helfen, wo es möglich war, um sie für sich zu gewinnen.
Die erste Gelegenheit dazu bot sich in Form seiner entlastenden Aussage bei der Polizei bezüglich des gestrigen Abends. So versöhnlich wie es nur ging lächelte er Anna an. „Wenn du willst können wir gleich jetzt zur Polizei fahren und die Aussage machen.“ Jetzt lächelte sie endlich wieder. „Aber dafür ist es längst zu spät.“ Mit einem flüchtigen Kopfnicken verwies sie auf seine Armbanduhr. "Schau doch mal, wie spät es schon ist. Wir sind doch bestimmt schon Ewigkeiten hier unten.“ Irritiert warf Leo einen Blick auf seine Armbanduhr. „Da muss ich dich leider eines Besseren belehren. Es ist erst halb sechs. Wenn wir jetzt Johanns Kutsche nehmen, sind wir in nicht mal zwei Stunden da.“ Anna schaute zweifelnd. „Wäre es nicht besser, deine Aussage auf morgen zu verschieben?“ Sie wollte noch weiter sprechen, doch legte ihr Leo ganz zart seinen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nicht morgen. Jetzt und heute. Hast du irgendeine Telefonnummer von den beiden Polizisten, die dich heute befragt haben? Ja? Dann ruf an. Deine Tante hat zwar kein Telefon, aber du hast doch bestimmt ein aufgeladenes Smartphone von zu Hause mitgebracht?“ Als Anna ihn fragend anschaute, zuckte er nur lächelnd mit den Schultern. „Wie gesagt, du hast mir bei unserem gestrigen Spaziergang durch den Wald sehr, sehr viel über dich erzählt. Unter Anderem, dass du befürchtest bei der vorsintflutlichen technischen Ausstattung deines neuen Zuhauses sehr bald Entzugserscheinungen zu bekommen und deswegen ein voll aufgeladenes Smartphone mitgebracht hast.“ Lächelnd strich er mit seinem Zeigefinger erst an Annas Schläfe entlang, dann an ihrem Kinn und endete kurz vor ihrem Schlüsselbein. Dabei sah er ihr tief in die Augen und Anna wurde das Gefühl nicht los, hypnotisiert zu werden. Auch wusste sie nicht genau, warum sie ohne weiter nachzudenken gehorsam ihr Smartphone zusammen mit der Visitenkarte des Polizisten aus ihrer Hosentasche zog und begann die Nummer zu wählen.
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