Einige Zeit später - ich hatte in den spannungsvollen Minuten jegliches Zeitgefühl verloren – entspannte er sich wieder und nahm seine Hand von meinem Mund.
Ich schaute ihn verwirrt an. „Was sollte diese Aktion?“, fragte ich ihn. Ich sprach automatisch leise, dennoch konnte ich nicht verhindern, dass die Worte härter, anklagender klangen, als ich es beabsichtigt hatte.
Er schüttelte nur den Kopf. „Vergiss es.“
„Ich will es aber wissen!“ Ich blieb eisern. Ich ließ mich doch nicht durch die Gegend schleifen, ohne zumindest eine Erklärung dafür zu bekommen!
„Stell dich einfach mal drauf ein, dass du dich heute möglicherweise noch öfters wirst verstecken müssen.“
„Aber findest du nicht, dass ich wenigstens wissen sollte, warum?“
„Weil du den Fehler begangen hast mit mir hierherzukommen“, klärte er mich auf.
„Aha. Irgendeinen Haken musste die Sache ja haben“, stellte ich verbittert fest. „Wäre auch zu einfach gewesen.“
„Stimmt“, gab er mir Recht, während er die Tür einen Spalt breit öffnete und hinauslugte. Ich kam auf ihn zu und spähte ebenfalls nach draußen.
Mit einem erstickten Aufschrei schlug ich die Tür wieder zu. Finn schaute mich irritiert an. „Was?“
„Da war Annika!“
„Und?“, fragte er verständnislos.
„Meine beste Freundin“, half ich ihm auf die Sprünge. „Wenn sie uns aus… diesem Raum kommen sieht, dann… dann wird sie alles Mögliche denken, aber nicht, dass wir uns hier versteckt haben. Das nimmt sie mir nie ab. Annika glaubt nämlich nur das, was sie glauben will.“
„Verstehe.“ Ein leichtes Lächeln bildete sich auf Finns Gesicht. „Ehrlich gesagt, ist es mir völlig egal, was andere Leute denken. Ich bin nicht hier, um den Abend in einer Abstellkammer zu verbringen“, teilte er mir mit, drückte die Klinke nach unten und schob mich auf den Gang hinaus.
Erleichtert stellte ich fest, dass Annika inzwischen weitergezogen war. Und Dominik war auch nirgends zu sehen. Gut.
„Ich dachte, wir machen den ganzen Abend nichts anderes“, antwortete ich meiner Begleitung.
Er lächelt gequält. „Ich hoffe doch sehr, dass wir zumindest die meiste Zeit das Fest genießen können.“
Ohne rechtes Ziel liefen wir weiter den Gang entlang. Vor lauter Menschenmassen waren die Verkaufsstände kaum zu erkennen, geschweige denn die Schilder, mit deren Hilfe man sich orientieren konnte.
Plötzlich blieb Finn wie angewurzelt stehen. „Oh nein!“, stöhnte er. Es hörte sich nicht so panisch-entsetzt an, wie vorhin, trotzdem hatte ich Angst davor, gleich fortgezerrt zu werden.
„Was? Müssen wir wieder abhauen?“
„Nein“, klärte er mich auf. „Aber da vorne ist Patrick und ich hatte eigentlich nicht vor, ihm zu begegnen.“ Er wies auf einen Jungen mit kurzen roten Haaren, der direkt auf uns zukam.
„Aha“, sagte ich nur.
„Wir waren mal befreundet“, fügte er erklärend hinzu.
„Warum jetzt nicht mehr?“, erkundigte ich mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Freundschaft mit Annika je zerbrechen würde.
Finn kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment erreichte der rothaarige Typ uns. „Hey Finn-auf-der-Flucht“, feixte er. „Willst du dich wieder verstecken?“ Er lachte hohl und zog dann an uns vorbei.
Meine Begleitung schaute ihm finster nach. „Genügt das als Erklärung?“, fragte er bitter.
„Hm“, machte ich. Wenn dieser Typ nichts mehr mit Finn zu tun haben wollte, weil er sich dauernd versteckte oder floh, war es dann nicht vielleicht besser, ich würde mich von ihm fernhalten?
„Ich dachte, Jungs lieben Abenteuer“, gestand ich zögernd.
Der Blick, mit dem er mich daraufhin musterte, war sehr ernst. Und sein Tonfall genauso. „Das ist kein Abenteuer!“
„Willst du mir nicht endlich sagen, was hier gespielt wird?“
Er schaute mich verzweifelt an. „ES WIRD NICHTS GESPIELT!“, wiederholte er betont langsam. „Und nein, ich werde es dir nicht sagen! Du siehst mich nach diesem Abend sowieso nicht mehr!“
Ich gab es auf, ihn nach dem Grund für seine Flucht zu fragen. Zumindest vorerst.
Schweigend gingen wir nebeneinander her den Gang entlang, bis wir auf die nächste „Attraktion“ stießen: Einen Mann, der Rosen verkaufte. Echte, mit Dornen und hübschen blutroten Blättern. Aber auch wesentlich kleinere Plastikrosen, die nicht mal rot, sondern rosa waren.
„Egal was sie sagen, das Fest ist nur was für Liebespaare“, dachte ich laut.
„Wollen wir so tun als ob?“, fragte mich Finn.
Ich guckte ihn merkwürdig an. „Wie denn?“
Er zuckte mit den Schultern. „Indem wir Rosen kaufen. Willst du eine?“
Ich warf ihm einen unsicheren Blick zu. Meinte er das jetzt ernst? Wir kannten uns kaum. Eine „richtige“ Rose erschien mir irgendwie unangebracht. Das wäre ja fast so, als wären wir zusammen. Aber das waren wir nicht und daran würde auch ein Rosenkauf nichts ändern.
Finn kaufte mir trotzdem eines der Plastikdinger. Er reichte sie mir mit den Worten: „Damit du diesen Abend nicht vergisst.“
Ich nahm die Miniaturrose zögernd an und murmelte ein wenig verlegen: „Das werde ich bestimmt nicht.“
Schließlich war ich mit Finn-auf-der-Flucht unterwegs und er hatte ja gemeint, wir würden uns heute noch öfters vor wem auch immer verstecken müssen. Alleine deshalb würde sich der Tag garantiert in mein Gedächtnis einprägen. Hinzu kam, dass ich zum ersten Mal auf dem Fest war. Und das mit einem mehr oder weniger völlig Unbekannten. Also wie sollte ich diesen Abend vergessen können?
Ich betrachtete die Rose und ließ sie mit einem leichten Lächeln in meiner Handtasche verschwinden. Sie war vielleicht klein und unecht, aber für mich würde sie immer etwas Besonderes sein. Weil es die erste Blume war, die ich in meinem Leben geschenkt bekommen hatte.
Wir folgten dem Gang weiter, den auch eine Vielzahl anderer Besucher entlangströmten. Mit jedem Schritt wurde die hämmernde Musik um uns herum lauter, bis wir plötzlich in einer kleinen Halle standen. Obwohl der Raum vollgestopft mit Jugendlichen war, konnte ich zum ersten Mal wieder etwas mehr sehen, außer die Rücken anderer Menschen.
Der schwarz gekachelte Boden sah aus, wie eine riesige Tanzfläche. Von der Decke hingen Flutlichter in verschiedenen Farben und tauchten die Szenerie in grellzuckendes Licht.
Die Musik selbst musste von einem DJ kommen, den ich in dem Gewimmel jedoch nicht ausmachen konnte. Zumindest wurde dieser auf den Plakaten groß angekündigt.
Ich drängte mich durch die Menge, unsicher, ob ich tanzen wollte oder so schnell wie möglich in einen anderen Raum, in dem weniger los war. Hin und wieder sah ich mich nach Finn um, ob dieser mir noch immer folgte. Er tat es, doch seine Miene war angespannt, während er die Umstehenden im Blick behielt.
„Hey, Miriam!“, rief da plötzlich jemand. Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam und sah Annikas Gesicht vor mir auftauchen. „Tanzt du mit mir? Dominik weigert sich.“
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