Andres kam wieder ins Zimmer zurück und hielt grinsend ein Lineal in die Höhe.
„Ich war erfolgreich!“ Er trat an ihr Bett heran und meinte lächelnd: „So, und nun steck deine Füße heraus.“
Sie gehorchte und streckte ihre Füße unter der Decke hervor. Er setzte sich an den Bettrand, ergriff ihren schmalen Fuß und hielt das Lineal an ihre Sohle. Sie entzog ihm ruckartig ihren Fuß und kicherte.
„Es ist kitzelig!“
Er schüttelte missbilligend den Kopf.
„Kitzelig hin oder her, du musst es aushalten. Schließlich willst du die Schuhe ja haben.“
Gehorsam streckte sie ihm ihren Fuß wieder hin. Er maß die Länge ihres Fußes, so gut es mit dem Lineal ging, ab. Sie presste ihre Lippen fest zusammen, um nicht wieder loszukichern.
„Ich messe am besten auch noch die Breite deines Fußes, um es den Schuhverkäufern etwas einfacher zu machen.“
Er maß also auch die Breite ab und ließ ihren Fuß wieder los. Holte dann sein Handy aus der Tasche und tippte die Maße dort ein, um sie nicht zu vergessen.
„So, und nun muss ich los, sonst jagen mich die Krankenschwestern gleich hier raus. Sie haben mich schon gewarnt, dass die Besuchszeit zu Ende ist.“
Er erhob sich, beugte sich vor und drückte sanft ihre Hand.
„Bis Samstag, Eva.“
Sie erwiderte seinen Händedruck.
„Tschüss, Andres.“
*
Tante Milvi kam gerade aus dem Haus, als Andres aus seinem Auto stieg.
„Guten Abend, Tantchen“, grüßte er lächelnd.
Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Guten Abend, mein Junge. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es ein guter Abend für dich wird.“
„Wieso sollte er nicht gut werden, wenn er es doch schon ist?“, entgegnete er gut gelaunt.
„Nun, dich erwartet eine Überraschung im Haus. Und verzeih mir, deiner alten Tante, dass ich geplappert habe. Ich wusste nicht, dass deine Freundin nicht im Bilde war, wo du hingefahren bist. Sie ist regelrecht explodiert, als ich es ihr gesagt habe“, sie sah ihm ins Gesicht, „Silvie hat auch Neli aus dem Haus gejagt. Sieh dir deine Hündin nur an.“
Andres blickte zur Hundehütte. Neli lag zur Hälfte drin, ihr Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, und blickte ihn traurig an. Andres seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
„Danke, dass du mich gewarnt hast.“
Tante Milvi nickte.
„Die Milch steht, wie immer im Kühlschrank, die Kuh und die Hühner habe ich gefüttert. Um Neli kümmere dich bitte selbst, denn ich glaube nicht, dass Silvie ihr was zum Fressen gegeben hat.“
„Ich danke dir Tante. Du bist und bleibst mein Schatz.“
Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Tante Milvi winkte ab.
„Ich mache es doch gerne. Und außerdem habe ich auch etwas davon. Du brauchst dich also nicht immer dafür zu bedanken. Wie geht es denn deinem Mädchen eigentlich? Kann sie sich schon wieder erinnern?“
„Es geht ihr zwar besser, aber erinnern kann sie sich noch an nichts. Ich habe ihr einen Namen gegeben, bis sie ihren richtigen wieder weiß. Sie heißt jetzt Eva.“
„Das ist ein feiner Name. Aber jetzt musst du zu deiner Freundin. Sie wartet schon sehnsüchtig auf dich. Tschüss, Andres.“
„Tschüss, Tante.“
Silvie stand am Küchenfenster, als er hereinkam.
„Was hat dir die alte Hexe denn erzählt? Sie führt sich hier auf, als wäre sie die Hausherrin!“
„Ich möchte dich bitten, meine Tante nicht so zu nennen“, entgegnete er ruhig.
Sie ging auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
„Entschuldige bitte, aber deine Tante hat mich so aufgeregt!“
„Tante Milvi sagt immer was sie denkt und sie ist die ehrlichste und gerechteste Person, die ich kenne.“
„Gerecht? Ist es etwa gerecht von ihr, dass sie mir sagt, ich wäre die falsche Frau für dich?“
Andres seufzte innerlich. Tante Milvi hatte Recht gehabt, der Abend versprach nicht so gut zu werden.
„Wieso sagst du nichts? Oder denkst du vielleicht genauso?“
Er zog sie an sich und sah ihr offen in die Augen.
„Wenn ich genauso denken würde, würde ich dann noch mit dir zusammen sein?“
Sie sah ihn schmollend an.
„Also willst du wirklich jeden Tag mit mir schlafen gehen und mit mir aufwachen? Ich habe nämlich meine Sachen schon in den Schrank gepackt.“
Er sah sie etwas verdutzt an.
„Heißt das … dass du hier einziehst?“
Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
„Ich bin es eigentlich schon. Freut dich das?“
„Ich bin zwar etwas überrascht, aber es freut mich natürlich.“
Sie schmiegte sich an ihn und gab ihm wieder einen Kuss.
„Hast du auch nichts dagegen, wenn der Hund draußen bleibt? Ich fände es so viel besser.“
Andres dachte an Nelis traurigen Blick. Er hatte jedoch keine Lust jetzt noch auf eine Diskussion.
„Sie kann vorerst draußen bleiben.“
„Du liebst mich also doch mehr als sie!“, strahlte sie ihn glücklich an.
Er nickte nur.
*
Silvie funkelte Andres verärgert an und erhob sich energisch vom Küchentisch.
„Nein, sag bitte, dass das nicht wahr ist! Wir sind heute zusammen zu der Party eingeladen, du und ich! Und jetzt willst du mir weismachen, dass du nicht zu der Party gehst, weil du dem Mädchen, das nicht mal ihren Namen kennt, Schuhe kaufen musst und dann mit ihr im Park spazieren gehst?“
„Ich habe sie gerettet und fühle mich für sie verantwortlich. Und ich wünsche mir einfach, dass sie wieder gesund wird. Es kann sie im Moment niemand von ihren Verwandten oder Freunden besuchen, weil niemand weiß, wer sie ist. Die Polizei konnte auch keine Hinweise auf ihre Identität am Unglücksort finden. Sie hat praktisch niemanden außer mir.“
Sie schnaubte verächtlich.
„Du fühlst dich wohl in der Rolle eines Ritters besonders edel, was?!“
Er seufzte und versuchte ruhig zu bleiben. Irgendwie zerrten die ständigen Streitereien mit ihr an seinen Nerven. Sie hatte andauernd etwas an ihm oder an dem was er tat auszusetzen.
„Silvie, mein Entschluss steht fest. Ich fahre heute nach Tallinn, weil ich es Eva versprochen habe.“
„Ach, sie heißt also Eva ? Ich denke, sie kann sich an nichts erinnern?!“
„Ich habe ihr den Namen gegeben, bis sie sich an ihren richtigen wieder erinnert.“
Silvie kicherte leicht hysterisch.
„Den Namen hast du ihr also gegeben? Wie schön! Na, sie scheint dir ja enorm wichtig zu sein!“, sie wandte sich abrupt von ihm ab und schritt energisch zur Treppe. „Wenn es dir wirklich so wichtig ist, dann fahr doch hin! Ich gehe eben mit meiner Freundin zu der Party!“, rief sie ihm über die Schulter zu und stolzierte nach oben.
*
Eva saß auf dem Stuhl am offenen Fenster und blickte nach draußen. Die Äste des großen Lindenbaums bewegten sich in dem leichten Wind, der den süßen lieblichen Duft der Lindenblüten in ihr Zimmer hereintrug. Heute war es angenehm warm. Es schien den ganzen Tag die Sonne und die Vögel zwitscherten lebhaft ihre Melodien. Sie blickte in den blauen Himmel, der mit weißen Federwolken überzogen war und verspürte große Lust, die Schönheit dieses Momentes auf einem Blatt Papier einzufangen. Konnte sie denn überhaupt malen? Sie wusste es nicht, nahm sich aber vor, es bei Gelegenheit auszuprobieren. Es klopfte leise an die Tür.
„Herein!“, rief sie und erhob sich, voller freudiger Erwartung.
Andres trat ein und staunte nicht schlecht, sie außerhalb des Bettes zu sehen. Sie hatte die weiße Dreiviertelhose und das blaue T-Shirt, mit einem glitzernden Schmetterling vorne drauf, an. Er lächelte und kam auf sie zu.
„Hallo! Ich sehe, es geht dir besser und es freut mich, dass die Sachen passen.“
Sie strahlte ihn an.
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