„Es wird ernst, sehr ernst, Singer. Forsten Sie den Laden durch, schmeißen Sie die raus, die nicht spuren und die zu alt sind. Machen Sie die Singerwerke jung und schlank und kümmern Sie sich um strategische Partnerschaften im Ausland oder, noch besser, um Produktionsstandorte in Lohnniedrig–preisländern. Wir sind uns im Aufsichtsrat einig, dass nun gehandelt werden muss!“
Soweit waren sie also schon, dachte Singer. Es geht um meinen Kopf. Bei früheren, viel geringfügigeren Vorwürfen war er nervös geworden. Heute war er so gelassen, als erzählte ihm Breitschmidt seine Krankheitsgeschichte.
„Michael Singer, unser Hauptaktionär, stimmt mit mir überein, dass wir den Produktionsstandort Deutschland erhalten wollen. Wir sind ein deutsches Unternehmen mit Schwerpunkt in diesem Land. Und wir sind stolz darauf, dass wir nie entlassen haben, selbst wenn es einmal kriselte.“
„Ach, Singer, kapieren Sie es doch endlich! Es geht ums Eingemachte. Wenn die Aktie nicht steigt, übernimmt uns Philadelphia Steel für ’n Appel und ‘n Ei.“
„Noch haben die Singers die Aktienmehrheit. Wir werden nicht verkaufen.“
„Da seien Sie sich mal nicht so sicher. Thomas Singer war bei mir und wollte meinen Rat. Er überlegt schon nicht mehr, ob er verkauft, sondern nur noch wann er verkauft. Ich habe ihn beruhigt, dass er dies erst einmal zurückstellen soll.“
„Bis die Aktie gestiegen ist?“
„Natürlich. Man gibt ein Juwel wie die Singerwerke nicht für einen Bettel weg.“
Breitschmidt ging es nicht um den Erhalt der Singerwerke, sondern nur darum, dass vor allem seine Bank, die ein gehöriges Aktienpaket hielt, ein besseres Geschäft machte. So einfach war das.
„Wir haben unser Personal bereits durch natürlichen Abgang reduziert. Wir kommen auch in Deutschland durch. Ich bin nicht dazu bereit, das Lebenswerk von Generationen wegzuwerfen, nur weil die Aktionäre die Nerven verlieren.“
„Mann, Singer, alle tun es.“
„Ich bin nicht bereit das zu tun, was meine verantwortungslosen Kollegen in anderen Unternehmen tun. Es ist natürlich der einfachste Weg, nur noch in Billiglohnländern zu produzieren. Wir Singers denken nicht an einen kurzfristigen Vorteil. Es gibt genug Beispiele, dass es auch anders geht. Was soll aus diesem Land werden, wenn wir es so herunterwirtschaften, dass keine Arbeitsplätze mehr da sind. Unsere Menschen können nicht alle Konstrukteure, Ingenieure oder Wissenschaftler werden. Wir brauchen die Basis. Mit dieser Wirtschaftspolitik nehmen wir, für einen kurzfristigen Vorteil, unseren Kindern die Zukunft.“
„Hat man so etwas schon gehört? Mann, Singer, so einen Scheiß hört man nur von linken Sozis!“
Erregt ging Breitschmidt vor seinem Schreibtisch auf und ab. Er schüttelte dabei den Kopf und schnaufte, als bekäme er keine Luft.
„Ich sollte Sie auf der Stelle abberufen. Weiß Ihr Schwiegervater eigentlich, wie Sie denken? Was glauben Sie, was der sagen würde, wenn er Sie eben gehört hätte.“
„Wahrscheinlich hätte er das Gleiche gesagt wie Sie.“
„Na also! Alle entlassen, schneiden das überflüssige Fett ab. Wir haben nicht mehr die Wirtschaftswunderjahre, nicht einmal die Neunziger. Nur wenn wir …“
„Wenn wir uns dem ungehemmten Kapitalismus hingeben, werden wir die Gewinne maximieren können. Dabei waren die Gewinne der Industrieunternehmen nie höher.“
Breitschmidt blieb mit offenem Mund stehen.
„Aber nicht bei uns. Da gab es schon bessere Zeiten. Sagen Sie mal, ist mit Ihnen etwas passiert? Vielleicht sollten Sie mal eine Kur nehmen. Ungehemmter Kapitalismus, so etwas habe ich bisher nur von den Schmierfinken im Spiegel gelesen. Haben Sie den Unfug daher?“
„Es gibt noch ein paar Blätter, die sich trauen ihre Meinung zu sagen. Zugegeben, es werden immer weniger. Wer schwimmt schon gern gegen den Strom?“
„Mit Ihnen ist nicht zu reden. Also, Klartext: Sie legen mir bis Ende November einen Restrukturierungsplan vor oder ich werde Ihren Rücktritt erzwingen. Und hören Sie auf, so unqualifiziert daher zu reden. Ich werde über unser Gespräch Stillschweigen bewahren. Denn wenn der Inhalt publik würde, Ihre Tirade über ungebremsten Kapitalismus und Zukunft der Kinder, verlieren Sie Ihre letzte Reputation und die Aktienkurse stürzen ins Bodenlose.“
„Sie werden mich nicht so ohne weiteres los! Ich werde kämpfen!“, trotzte Singer, obwohl er nicht einmal sicher war, ob er dies wirklich noch wollte.
„Sie glauben, dass Michael Singer Sie weiterhin unterstützen wird? Dass Sie sich da mal nicht täuschen. Wenn ich Ihre Entlassung zur Bedingung mache, weil sonst der gesamte Aufsichtsrat zurücktritt, möchte ich mal sehen, ob er nicht weich wird. Aber, Sie können es sich ja noch überlegen. Noch haben Sie Zeit, das Steuer herumzureißen.“
Er trat an den Schreibtisch und setzte sich wieder und breitete die Arme aus und fuhr in versöhnlichem Ton fort: „Mann, Singer, verpfuschen Sie sich nicht Ihre Karriere. Schließlich waren Sie vor fünf Jahren einmal Wirtschaftsführer des Jahres. Ich mag Sie. Ich habe mich immer für Sie stark gemacht. Was soll dieser sozialistische Quatsch? Noch nie habe ich in einer Vorstandsetage derartiges gehört. Nehmen Sie doch Vernunft an. Die besten Namen in Deutschland handeln so.“
„Aber nicht alle. BMW zum Beispiel, um nur einen Namen herauszugreifen, entlässt keine Leute.“
„Aber produziert auch schon in den USA. Auch die werden hier noch abspecken. Das ist nur eine Frage der Zeit. Niemand tut das gern. Aber es muss sein, und Sie werden es auch tun, wenn Sie vernünftig sind. Es ehrt Sie, dass Sie
Skrupel haben, aber als Unternehmensführer wird man dafür bezahlt, und gut bezahlt, wie ich weiß, dass man Gewinne macht. Das allein zählt.“
„Das allein zählt nicht. Wir müssen auch an die Zukunft denken, an die Erhaltung des betrieblichen Friedens, an das Wohl der Mitarbeiter, an die Zukunft der Kinder. Auch sie sollen Arbeitsplätze hier in Deutschland vorfinden. Wo arbeiten eigentlich Ihre Söhne?“
„Was tut das zur Sache?“
„Wo arbeiten sie?“
„In London“, gab Breitschmidt unwillig zu und lief wieder rot an. „Genug mit dem Gerede! Sie legen mir bis November vor, wie viele Sie entlassen können und welche Pläne die Singerwerke in Übersee haben …..“ Er schwieg, schnaufte und starrte ihn wütend an.
Er glaubt wirklich, dass ich nachgeben werde, dachte Singer. Nun, Mühe hat er sich gegeben, mich unter Druck zu setzen. Es ist gar nicht so lange her, da hätte ich jetzt kapituliert. Ihm wurde in diesem Augenblick, in der Konfrontation mit Breitschmidt, bewusst, was aus ihm geworden war. Obwohl zur Unzeit, erinnerte er sich wieder an die Demonstration vor dem Schöneberger Rathaus, als ihn der Wasserwerfer traf. Damals glaubten sie wirklich, die Guten zu sein und selbst später, als ihm klar wurde, wie sehr sie manipuliert worden waren, blieb die Überzeugung, dass die Achtundsechziger Deutschland zum Positiven verändert hatten. Ihn schauderte, wenn er an die muffige Atmosphäre Ende der Fünfziger dachte, an das immer noch wirkende Gift der braunen Epoche in den Köpfen der Menschen. Aber den Kompass hatte er nach dem Studium aus den Augen verloren und Karriere gemacht, was mit seinem Namen und Hintergrund nicht schwer gewesen war. Verdammt leicht hast du es gehabt und nun bist du zum ersten Mal mit der Wirklichkeit konfrontiert und musst dich entscheiden, dachte er und stellte fest, dass er ihr nicht ausweichen konnte.
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