Brent zieht sein Hemd zurecht, das über seinem Bauch spannt und redet weiter.
»Dieses Studium macht mich krank. Das Selbstverständnis dieser Leute kotzt mich an. Ihre Blasiertheit ekelt mich. Die Ignoranz der Naturwissenschaften und Techniker ist wenigstens weniger überheblich.«
Er lässt Stefano die Chance, etwas auf seine Ausführungen zu erwidern. Aber Stefano ist noch mit seiner Überraschung beschäftigt. Er lässt die Chance ungenutzt vorüber ziehen.
»Alles ist nützlich. Aber wir in unserem selbstverliebten, egozentrischen Kunstuniversum sind so ahnungslos. Technik? Naturwissenschaften? Fehlanzeige! Diese Künstler, Lehrer und selbsternannten Intellektuellen, die ohne fremde Hilfe keine Mail verschicken können finde ich lächerlich. Da hat niemand eine Vorstellung, was passiert, wenn er die Enter–Taste auf seinem Computer drückt. Noch schlimmer finde ich, dass die meisten nicht einmal Interesse haben, es herauszufinden. Und dann verströmen sie diese unglaublichen Arroganz, die ganze Welt erklären und verstehen zu können. Wir tun, als verfügen wir über das wichtige und richtige Wissen, nur weil wir ein paar Artikel über Andy Warhol und Judith Butler gelesen haben, ein Seminar über die frühen Kubisten belegen und wissen, wie Duchamp das Kunstsystem verarscht hat. Ästhetik, Kunstgeschichte und Theorie. Das ist uns wichtig, und wenn ein mittelmäßiger Galerist einem uninteressierten Kunden dein Bild aufschwatzen konnte, weil es farblich zur Wohnzimmereinrichtung passt, nennt man das Erfolg.«
Brent wartet auf eine Reaktion, doch Stefano schaut ihm regungslos aber interessiert zu.
»Dieses Studium geschieht im luftleeren Raum. Und ich will wieder atmen können. Kennst du die beiden Hauptsätze der Thermodynamik?«
Stefano schüttelt langsam den Kopf.
»Damit bist du nicht alleine. An unsrer Schule kann dir sicher niemand sagen, was sie sind und warum sie für alle physikalischen und chemischen Prozesse so zentral sind. Es ist, als ob man Kunst sammelt, aber noch nie von Picasso gehört hat.«
»Oder von den Impressionisten?«
»Du fängst also langsam an, mich zu verstehen?«
»Allgemeinwissen einer modernen Gesellschaft! Anforderungen eines technisierten Zeitalters! So in dieser Art? Jetzt verstehe ich wenigstens deine Arbeiten. 'Entropiemessung einer Paarbeziehung', 'Resonanzfrequenz'. Jetzt macht vieles Sinn. Nein. Sinn macht es nicht. Es erklärt ein wenig, wie du auf diese merkwürdigen Titel gekommen bist. Schräg, mein Freund, ganz schräg. Aber großartig. Nur: Warum gleich alles hinschmeißen? Das verstehe ich nicht. Du meinst das ernst, oder?«
Brent grinst.
»Würdest du es mir denn glauben?«
Stefano zuckt mit den Schultern.
»Und ein anderes Studium anfangen?«
»Warum nicht?«
»Du spinnst.«
»Wenigstens bin ich in der Situation, mir es aussuchen zu können.«
Stefano fährt sich durch die Haare. Dann rümpft er die Nase.
»Deine fundamentale Kritik an unserem Studium und den Personen, die uns unterrichten, hat nicht zufällig etwas mit einem Ausflug zu tun, den wir beide vor drei Wochen zusammen unternommen haben?«
Mit dieser kleinen Bemerkung hat Stefano es wieder geschafft. Blitzartig ist er zum Gegenangriff übergegangen. Ansatzlos. Totale Überrumpelung. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen.
»Du meinst, es könnte etwas damit zu tun haben?«
»Ich denke, es geht nicht nur um Kunst versus Technik, Geisteswissenschaft versus Naturwissenschaft und so. Wir haben auch einen ästhetischen Konflikt. So in der Art: Live–Art versus Objektkunst. Wie sieht es damit aus?«
Brent zögert, dann beschließt er, diesem Weg doch noch eine Weile zu folgen.
»Vielleicht.«
Stefanos Lachen enthält eine Spur Anerkennung.
»Du willst es wirklich wissen, Brent. Respekt! Du machst keine halben Sachen.«
Um ehrlich zu sein – und Brents Anspruch, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein, ist im Laufe der letzten Jahre unablässig gewachsen – hat Brent den Ausflug auf das Live–Art–Festival mit Stefano noch nicht mit seiner jetzigen Situation in Zusammenhang gebracht. Aber Stefano kann mit seiner Vermutung nicht ganz falsch liegen. Da gibt es eine Spannung, ganz tief, mit dem sich oft überraschende Erkenntnisse ankündigen. Ein innerliches Zittern wie das Vibrieren einer zum Bersten gespannten und dann angeschlagenen Saite. Es erinnert ihn an das Gefühl von Entspanntheit bei gleichzeitiger geistiger Anregung. Wie an diesem Abend in der ehemaligen Kirche. Vielleicht hatte es damals schon angefangen. Und bis heute nicht aufgehört? Vielleicht war es schwächer geworden, weil niemand diese Faszination teilte, aber es war niemals verstummt. Wie der Ausläufer eines Erdbebens auf der anderen Seite des Globus, dessen Schockwellen auch in der Ferne noch zu messen sind. Brent gibt sich etwas entrüstet:
»Tu nicht so, als ob dich das ruhig gelassen hätte.«
»Habe ich nie behauptet.«
»Dann tue doch nicht so verwundert.«
Stefano hebt abwehrend die Hände: »Ich will mein Lebenskonzept nicht wegschmeißen, nur weil ein paar Musiker in einer alten Kirche Cage gespielt haben.«
»Du vergisst die Käfige. Die Videoprojektionen. Und vor allem vergisst du diese unglaubliche Musik. Dieses Klanggebilde. Die Texte. Als ob die Musik nur für sie gespielt wird. Diese Stimmen. Diese absolut paranoiden Texte.«
»Schon klar. Very Rilke, mein Freund. So Du–Musst–Dein–Leben–Ändern–mäßig. Ein bisschen zu romantisch für meinen Geschmack, aber vielleicht ist es ja die richtige Zeit für große Gefühle.«
»Es formt sich aus, der Gegenstand liegt schon im Stein verborgen, muss freigelegt werden von seiner Hülle. Nicht der Stein ist es, der den Gegenstand zum Kunstwerk macht.«
Stefano rückt auf seinem Platz herum, setzt sich schließlich kerzengerade auf und seinen belehrenden Zeigefinger aus. In Brents dozierenden Ton fährt er fort:
»Es ist das Nichts, das ihn umgibt. Das Nichts, dass wir als Künstler aus dem Stein herauszuschlagen haben.«
Sie lachen. Dann prosten sie sich zu und Brent schüttelt den Kopf. Stefanos Stimme klingt jetzt fast melancholisch.
»Mensch, was waren wir begeistert. Ich meine, der Weichler ist nun nicht gerade ein Ästhetikexperte, aber wir haben seine Worte wie Drogen aufgesogen. Der hätte uns alles erzählen können und wir hätten es für die größte Erkenntnis dieser Welt gehalten. Erinnerst du dich? Da gibt es einen Studienanfängerstefano, der mit einem Studienanfängerbrent zusammen hier in dieser Kneipe sitzt und beide fühlen sich großartig bei dem Versuch, vor gedachte Gedanken als ihre eigenen zu empfinden.«
Brent ballt die Hand zur Faust und lässt sie auf eine Erdnuss nieder fahren.
»Ich habe keine Lust mehr, mich ins Nichts zu arbeiten. Einem Gegenstand auf den Leib zu rücken und ihn Stück für Stück zum Nichts machen, bis nur noch ein Werk übrig bleibt, was man im Idealfall Kunstwerk nennt und einen riesigen Haufen Abfall. Das ist scheiße.«
»Und was haben diese Performer, was du in deinen Arbeiten nicht findest?«
»Leben!«
»Blödsinn. Das liegt nur an dir.«
»Nein. Es liegt am Material. Ich habe keine Lust mehr, mich mit totem Material auszudrücken. Mein Material muss leben. Ich muss selbst zu meinem Material werden.«
Der Keller beginnt sich zu leeren. Das ist jeden Samstag das Gleiche, die Palästinenser brechen alle gleichzeitig auf und nur noch eine handvoll Gäste bleiben übrig. Brent beobachtet die Arbeit des Studenten hinter der Theke. Mit langsamen, kreisenden Bewegungen fährt er konzentriert über den polierten Holztresen, während er mit der anderen hin und wieder zum Abschied für einen der Gehenden hebt.
Manchmal kommt die Klarheit vollkommen unerwartet.
»Es muss etwas passieren.«
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