»Ich meine das Studium. Es ist vorbei. Ich hab keine Lust mehr. Ich schmeiße es hin.«
Stefanos Augen wandern von rechts nach links und wieder zurück. Brent hat es geschafft, und das passiert selten genug. Brent lächelt. Stefano bestätigt Brents Punktsieg indem er mit unverhohlenem Unverständnis nachfragt.
»Jetzt wegen dieser Sache?«
Brent genießt das kurze Gefühl, Stefano für einige Augenblicke im Netz zappeln zu sehen.
»Macht das einen Unterschied?«
Natürlich muss er merken, dass Brent ihn hinzuhalten versucht. Dafür kennen sie sich zu lange, und Stefano ist zu klug.
»Es macht einen gewaltigen Unterschied! Ob du schon länger frustriert bist und endlich einen Anlass für den Absprung gefunden hast, oder ob du wie ein quengeliges Kind zu weinen anfängst, weil dein Lieblingsspielzeug kaputt gegangen ist. Im ersten Fall stimme ich dir zu, denn du hast etwas Besseres verdient, als diese Kleinstadtkunstschule. Im anderen Fall kann ich nur sagen: mach keinen Unsinn. Hör auf zu weinen und sieh zu, dass du das noch irgendwie hin bekommst. Es lohnt sich nicht. Nicht jetzt.«
Brent schiebt seine Lippen verächtlich nach vorne. Eine Bewegung, die er sich von Stefano ab geschaut hat. Da aber kaum jemand seine eigene Mimik kennt, kann Brent sich diese kleine Frechheit erlauben.
»Gerade von dir hätte ich ein besseres Argument erwartet als ausgerechnet den bescheuerten Abschluss. Du sagst doch immer: Ein Diplom, mit dem man nichts anfangen kann.«
Um den Druck noch zu erhöhen, fügt Brent kurzentschlossen und unfreundlicher als beabsichtigt hinzu: »Du enttäuschst mich, Stefano.«
Stefano braucht nur wenige Augenblicke, um sich von der Überraschung zu erholen, sein Gegenangriff kommt schnell, direkt und überraschend.
»Hast du Stress mit Lucia?«
Wieder einmal hat Brent Stefanos Lust an der Provokation unterschätzt. Wahrscheinlich ahnt er längst, wohin Brent das Gespräch steuern möchte. Und nun versucht er, ihm eine eigene Richtung zu geben. Oder es ist ein intuitiver Abwehrreflex. In beiden Fällen sieht Brent sich gezwungen, die Gegenattacke sofort zu unterbinden.
»Vielleicht solltest du dich eher darum kümmern, zu verstehen, was ich dir sagen will, statt wie eine eifersüchtige Geliebte herum zu giften.«
Stefanos Kehlkopf hüpft einige Male, dann zündet er sich mit ruhigen Fingern eine Zigarette an.
»Du hast recht. Das war unter der Gürtellinie.« Er beginnt das bedruckte Deckpapier von der Zigarettenpackung abzureißen. »Was willst du denn machen? Zurück zum Reisen? Weltflucht durch Weltreise?«
Brent lässt seinen Körper nach hinten, gegen die kühle Backsteinmauer sinken und kopiert Stefanos Körperhaltung. Er könnte vergnügt sein, aber die Situation ist dafür zu ernst.
»Du kannst es nicht lassen. Oder? Du kennst mich zu wenig, um über mein Reisen urteilen zu können.«
»Das stimmt, aber ich weiß, dass du auf der Suche warst und letztlich nichts gefunden hast.«
»Es ist unfair, dein Halbwissen gegen mich zu verwenden.«
»Es ist nicht schwer, eins und eins zusammen zu zählen. Dafür kenne ich dich doch schon lange genug. Dafür haben wir zu viele Gespräche wie dieses geführt.«
»Du verkennst den Ernst der Situation!«
Stefano lässt die leere Bierflasche in seiner Hand rotieren. Die Worte hallen in ihr nach. Sie klingen hohl. Die linke Augenbraue bewegt sich überraschend und fragend auf den zurückweichenden Haaransatz.
»Du bist mir weniger ein Rätsel, als du es dir selbst bist.«
Ohne eine Replik abzuwarten quetscht Stefano sich aus der engen Wandnische und schlendert durch die Studentengruppen zum Tresen. Sonntagabend. Die Palästina–AG hat im Gemeinschaftsraum direkt nebenan getagt. Inzwischen sind die arabischen Studenten herüber gekommen, träufeln Tabascosauce auf ihre Chips und trinken eiskaltes Bier aus kleinen Flaschen. Brent grinst verlegen. Auch dieser Abend wird noch lange dauern.
Stefano lehnt am Bartresen, er wechselt einige Worte mit dem Studenten dahinter. Er hat ihn bestimmt beim Vornamen angesprochen, denkt Brent. Stefano ist so ein Typ. Er merkt sich Namen. Er freut sich, wann immer er ein bekanntes Gesicht sieht und lässt den anderen an seiner Freude Teil haben. Brent dagegen muss Platz haben, Räume in denen er keine sozialen Verpflichtungen verspürt. Diese Kneipe ist wie eine Fortsetzung seiner Reisen: man fühlt sich nie unwillkommen, aber auch nie wirklich heimisch. Die perfekte Mischung. Hier kann er sich voll und ganz auf das Gespräch konzentrieren. Sonst nichts. Keine Verpflichtung gesellig zu sein. Aus diesem Grund hat Brent sich entschieden, keine Nähe zu den Menschen in dieser Kneipe entstehen zu lassen, obwohl ihm einige der Gesichter im Laufe der letzten Jahre vertraut geworden sind. Aber er verabscheut die Unhöflichkeit, ein fremdes Zusammensein mit der eigenen Präsenz zu stören. Das Bedürfnis nach Geselligkeit ist immer aufdringlich. Schon ein freundschaftlicher Gruß kann ein Besitzanspruch bedeuten und eine fremde Zweisamkeit belasten. Auch die Exklusivität ihrer Freundschaft verteidigt Brent. Eine Notwendigkeit, die Stefano trotz seiner Scharfsinnigkeit vernachlässigt.
Als Stefano mit zwei Flaschen Bier und einem Teller salziger Erdnüsse zurück kommt, ergreift Brent sofort die Initiative. Um zu vermeiden, dass Stefano sich schuldig fühlt, beginnt er ansatzlos und schnell zu sprechen.
»Du kennst mich weniger, als du meinst. Was sind vier Jahre? Du kennst mich als Student. Gut. Du kennst den Studien–Brent. Und du hast ein paar Eindrücke von meinen Reisen im Kopf. Fragmente, die ich dir erzählt habe. Aber du solltest nicht glauben, alles zu kennen. Damit machst du es dir zu leicht. Es gibt noch viele andere Brents. Es gibt Dinge an mir, von denen du nicht einmal ahnst, dass sie existieren.«
Stefano zuckt mit den Schultern.
»Na gut, Studien–Brent. Was gedenkst du denn zu machen? Lass mich wissen, was dein B–Plan ist. Es muss doch ein Exit–Szenario geben, bei deinem bewegten Leben.«
Brent ist nicht sicher, ob Stefano sich wirklich einlässt, oder ob er bereits die nächste Attacke vorbereitet.
»Ganz ehrlich?«
Brent fixiert Stefano über den Hals seiner Bierflasche hinweg. Der Rauch ihrer Zigaretten, die im schwarzen Plastikaschenbecher zwischen ihnen glimmen, fängt sich in Stefanos langen Haaren. Qualm von vielen Gesprächen, aus vielen Mündern. Die billigen Wandlampen werfen nur schwache Lichtflecken ins Dämmerlicht. Auch die Kerze auf der mit dicken Wachsresten überzogenen Weinflasche spendet kein Licht, lässt lediglich Schattenflecken durch Stefanos Gesichter zittern. Es ist Zeit für die nächste Überraschung.
»Ich denke darüber nach etwas ganz anderes zu machen. Etwas handfestes. Ein anderes Leben. Ein anderes Studium. Informatik vielleicht. Oder Maschinenbau.«
Brent kann sehen, wie sich Stefano bemüht, die Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Sein Gesichtsausdruck changiert zwischen Belustigung und Ärger. Seine Gedanken lassen sich ablesen: Macht er sich über mich lustig? Meint er das ernst? Was ist in ihn gefahren? Stefano kämpft, aber er hat wenig Chancen. Jetzt kann er nur noch ein guter Verlierer sein.
»Informatik?«
Das fremdartige Wort poltert aus Stefanos Mund, schlägt dumpf zwischen ihnen auf den Tisch, wo es liegen bleibt. Es sieht nach Steinkohle aus, schimmert feucht und metallen. Kleine Bruchstücke haben sich von ihm gelöst und auf dem dunklen Holz des Tisches verteilt. Stefano klingt irritiert.
»Wie kommst du denn darauf?«
Brent fährt
»Drei Jahre altsprachlich–naturwissenschaftliches Gymnasium. Physik–Mathematik–Leistungskurs, Abiturnote Einskommadrei. Ich hatte Ehrgeiz und sogar Interesse daran. Das ist der Brent, der Programmiersprachen beherrscht und Software schreibt. Nur so zum Spaß. Du weißt, wie das mit dem Gehirn ist: alles bleibt irgendwo gespeichert. Ein neuronales Netz. Ich habe vor acht Jahren einen Preis für ein Schulprojekt gewonnen: die Computersimulation eines neuronalen Netzes. Alle Informationen schlummern in organischen Zellkonfigurationen, man kann nur nicht nach Belieben darauf zugreifen. Man kann versuchen, zu vergessen, aber das Vergessen lässt sich nicht steuern. Und ich habe mich schließlich damit abgefunden, dass es nicht passieren wird. Alles hat seinen Platz. Im Gedächtnis, aber auch im Leben. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, diesem Teil von mir wieder mehr Platz einzuräumen.«
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