Natürlich ist es nie so gewesen, wie es Stefano erzählt. Brent erinnert sich genau: an den Augenblick des Stillstands, er, Brent, war Teil dieses Stillstands, sein Auslöser. Carmen brach die Bewegungslosigkeit und als Brent handeln musste, hat er sich der Situation entzogen. Stefanos Erzählung wird mit jedem Bier, mit jedem erneuten Durchgang dramatischer. Das passt zu ihm. Er steigert sich zu einer größtmöglichen Wirkung, exakt wie in seinen Arbeiten.
Stefano beginnt immer mit einem Experiment, einer Idee, die er dann ausprobiert und steigert. Das war schon damals so gewesen, als sie beim Essen auf die Idee mit der Salzkruste kamen. Ursprünglich war es sogar Brents Idee gewesen, aber Stefano hat sie aufgegriffen, durch dekliniert, sich an ihr abgearbeitet. Brent ist nicht nachtragend und weiß so einen Einsatz zu respektieren. Im Nachhinein betrachtet, war es wirklich naheliegend. Die Kartoffeln mit Salzkruste erinnerten Brent an Salinenfelder, die er auf seiner Reise in Südfrankreich gesehen hatte. Eine tödliche, gleißend weiße Landschaft, mit einer dicken, festen Salzkruste überzogen, die Erde, Pflanzen und Steine in ihre krümelige Todesfinger nahm. Es wurde ein langer Abend, an dem sie viel tranken. Eines führte zum anderen und am Ende hatte Stefano die Idee, Alltagsobjekte mit einer Salzschicht zu überziehen. Zuerst war es nur ein Besteck, Messer, Gabel und Löffel, die er mit eine Salzschicht überzog, testweise, und dann eine Leinwand, Stillleben mit Tomate drapierte. Das war natürlich ironisch gemeint, aber ihr damaliger Dozent bemängelte die Selbstbezüglichkeit der Arbeit. Später kamen noch Blätter aus Papier dazu, die sich zu dünnen, flachen Salzschichten verwandelten. Die letzte Arbeit war der Kotflügel eines Schrottautos. Die Idee war gut, Stefanos Umsetzung ebenso. Den salzige Kotflügel verkaufte er sogar, was ihm neben dem Geld ein einseitiges Interview in der Samstagsausgabe der Tageszeitung einbrachte. Brent freute sich mit Stefano über diesen Erfolg, aber er machte sich auch darüber lustig, in dem er ihn immer wieder daran erinnerte, dass sein Salzflügel im Ausstellungsraum eines Autohändlers lag, was niemand an ihrer Schule für eine angemessene Präsentation hielt.
Stefano leert seine Flasche und starrt Brent einen zu langen, für ihn aber wahrscheinlich dramaturgisch durchdachten Augenblick in die Augen.
»Also wenn ich ganz ehrlich bin… Für mich sah es aus, als ob du zugeschlagen hast. Ich meine, das ganze Ding war darauf ausgelegt, den Bezug zum Boden so fragil wie möglich zu gestalten, das eigene Gewicht und die Schwerkraft zu leugnen, die an jedem Fragmente gezogen hat. Man fragte sich doch ununterbrochen, wie dieses riesige Ding auf diesem schmalen Fuß überhaupt stehen konnte? Und dann gehst du da mit dem Hammer ran. Das konnte doch nicht anders ausgehen. Ehrlich!«
Eine Schulerinnerung. Punkte mit Pfeilen an der Tafel, darum ein weißes Kreiderechteck. Die Gesamtsumme aller Kräfte eines freien Systems ist Null! Das bedeutet: es wirken keine Kräfte nach außen. Das heißt aber keineswegs, dass in diesem System keine Kräfte wirken. Nur heben sich diese Kräfte in ihrer Gesamtwirkung gegenseitig auf. In einem Kristallgitter gibt es eine Menge von Anziehungs– und Abstoßungskräften. Zwischen Atomen, Elektronen und so weiter. Aber solange keine Kraft von außen einwirkt, befindet sich das System in einem Zustand der Stabilität. Anders formuliert: die Gesamtsumme aller Kräfte eines nicht–freien Systems reduziert sich auf die Summe der äußeren Kräfte. Um ein freies System zu erhalten, müssen die äußeren Kräfte auf Null reduziert werden.
Natürlich hat es sich nicht so zugetragen. Brent erinnert sich genau: wie er zu Stefano schaute, bevor er den Hammer nahm, dass Stefano seinen Blick nicht erwiderte, weil er ganz und gar in seinen Holztorso versunken war. Mit dem Hammer wollte Brent die Metallplatte bearbeiten, auf der die Struktur befestigt war. Die Platte war massiv, damit nichts ins Schwanken geraten konnte. Stefano konnte ihn gar nicht gesehen haben, unmittelbar bevor das Gebilde, seine Abschlussarbeit, durch die plötzliche Zuführung von Energie in Form eines mechanischen Impulses aus dem Zustand eines labilen Gleichgewichts geriet. Drehmoment und Hebelwirkung durch die am Schwerpunkt ansetzende Gravitationskraft taten dann das ihrige. Das konnte nicht lange gut gehen. Und vor allem passierte es zu schnell für Brent, der nicht mehr reagieren konnte. Trotzdem: die von Stefano dramatisierte Version war interessanter als die Wahrheit.
»Du hast es darauf angelegt, oder?«
Brent beschließt, die Frage zu ignorieren. Sie haben sich beide so oft darüber unterhalten, dass ein Kunstwerk für sich selbst und nur aus sich heraus spricht und keine Erläuterung seines Erschaffers bedarf. Nur schlechte Kunst muss erklärt werden, gute Kunst weckt das Interesse, selbst herausfinden zu wollen, selbst zu experimentieren, die eigenen Gedanken und Assoziationen spielen zu lassen. Brent begegnet Stefano mit einem Schweigen das klarmacht, dass keine Antwort kommen wird.
Stefano runzelt die Stirn.
»Hörst du überhaupt zu? Du sitzt hier autistisch auf deiner Bank und sagst kein Wort. Ich könnte mit der Backsteinmauer hinter dir sprechen, das wäre aufregender. Soll ich den ganzen Abend alleine reden? Es wäre hilfreich, wenn du etwas beträgst.«
Brent hat in Gedanken die möglichen Antworten und Erklärungen längst durchgespielt. Nun lässt er den Sprengsatz, den er seit Stunden in sich trägt, ohne weitere Worte platzen.
I am a time–bomb. Ticking, ticking time–bomb.
»Es ist vorbei.«
Backdraft. Das Feuer bekommt frischen Sauerstoff. An der frischen Luft entfalten die Worte erst ihre Wirkung. Die akustische Materialität der Worte legt sich schwer auf Brents Schultern und drückt ihn mit Eisenbändern auf seine Sitzbank. Schnell fügt er hinzu: »Ich werde die ganze Sache hinschmeißen.« Das macht es nicht leichter. Er hatte gehofft, dass es sich ausgesprochen leichter anfühlt.
Seit sie in Dr. Kroiters Einführungsveranstaltung zufällig nebeneinander gestanden haben, waren Brent und Stefano Freunde. Und diese vier Jahren markieren die längste Freundschaft in Brents Leben. Natürlich haben sie sich in dieser Zeit verändert, Brent ist zwanzig Kilo schwerer geworden, Stefano hat einige Haare verloren. Aber die geistige Verbindung blieb davon unberührt, die Ironie und die noch seltenere Eigenschaft, den anderen dabei ernst zu nehmen.
Stefano hatte den Einführungsvortrag ihres neuen Rektors mit bissigen Bemerkungen kommentierte. Der übergewichtige und schmierige Mann, der mit schütterem Haar vor dieser Gruppe junger Männer und Frauen stand, machte es ihnen leicht. Aber was Stefano sagte war tiefgründig und wohl überlegt, bliebt nicht bei flachen Zoten über Kroiters Äußeres und damit hatte Brent schon am ersten Tag seines Studiums gefunden, was er während der Jahre seiner Reise mit den flüchtigen, geistig wenig anregenden Bekanntschaften vermisst hatte. Stefano sprach ebenso ironisch–abfällig über sich und seine Kommilitonen wie über Kroiter. Für Brent, der die letzten Jahre gereist war, öffnete sich ein neuer Horizont und er begann zu verstehen, was er vermisst hatte. Wer immer nur unter Fremden lebt, verliert die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Und wenn alle Bezugspunkte verschwinden verliert man die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen.
Mit seiner Ankündigung hatte Brent jetzt alle Vorteile klar auf seiner Seite. Ehrliche Verblüffung zeigt sich in Stefanos Gesicht. Damit konnte er nicht gerechnet haben.
»Du willst Simpsons Kurs schmeißen? Das geht nicht, es ist dein Abschlusskurs.«
Brent zögert. Das Vergnügen war jetzt ganz auf seiner Seite. Er legt eine kurze Pause ein, bevor er den kurz rasierten Kopf schüttelt und sich gedankenverloren im Nacken kratzt. Er schiebt die umgekrempelten Ärmel seines Hemdes einige Zentimeter weiter nach oben – eine der wenigen Dinge, die er sich bei seinem Vater ab geschaut hatte – stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und lässt sein Kind in die Mulde seiner Hände fallen.
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