Wiehernd hielt die Stute inne, trat einige Schritte zurück, dann legte sie alle Kraft in die Vorwärts-Bewegung. Bis sich das Seit erneut zusammen zog und sie kaum noch Luft bekam. Steven ließ sein Pferd immer dann, wenn die Stute locker ließ, einige Schritte beiseite gehen. Die Herde war inzwischen aus der Sichtweite geflohen, doch Steven konzentrierte sich ohnehin nur auf seine Aufgabe. Immer weiter brachte er die Stute weg, zog sie langsam aber sicher zu dem Weg, den die Herde auf ihrer Flucht hatte nehmen wollen. Er ließ sie ein wenig laufen, dann zog sich die Schlinge erneut zu.
Als Charlie dazu kam, glänzte das Fell der Stute bereits von Schweiß, doch sie gab nicht auf. Steven tat es bereits leid, dass er der Stute Schmerzen zufügen musste, doch er hatte keine Wahl. Charlie lobte ihn, er machte es genau richtig, doch Steven wurde immer mehr klar, dass es eben nicht richtig war, was er hier tat. Ja, er brauchte die Stute, doch sie sollte ihm nicht aus Angst folgen. Er wollte, dass sie ihm vertraute. So, wie Kristina es immer mit den Tieren gemacht hatte. Sie hatte die Tiere nie gezwungen, etwas zu tun. Im Gegenteil, sie war den Tieren immer entgegen gekommen, hatte versucht, ihre natürlichen Verhaltensweisen zu unterstützen. Nur, wenn sie verletzt waren, hatte sie sie eingeschränkt, aber nie mehr, als es notwendig war. Sobald die Tiere gesund waren, hatte sie alle gehen lassen, doch die meisten waren ihr weiterhin treu geblieben. Vertrauen. Das war es, was er wollte.
„Nein!“, entfuhr es ihm daher mit einem Mal. Er sprang vom Pferd und hielt das Ende des Lassos in der Hand.
„Bist du verrückt?“, schrie Charlie. „Sie wird dir die Hände zerfetzen! Sie ist noch nicht müde genug, um sie zuzureiten!“
„Nein, Charlie.“, schüttelte Steven den Kopf, ließ dabei aber die Stute nicht aus den Augen. „Ich will ihr Vertrauen. Sie soll nicht gehorchen, weil sie gebrochen wurde oder weil sie Angst hat, sondern weil sie es will, weil sie mir vertraut.“
„Du bist verrückt.“, murmelte Charlie.
„Bitte, Charlie, ich muss es versuchen.“, bat Steven. Er ließ das Seil etwas lockerer, sofort versuchte die Stute zu fliehen. Doch Steven hielt dagegen. Schritt für Schritt ging er zu der Stute, sprach mit einer leisen, beruhigenden Stimme auf sie ein. Er ignorierte Charlie vollkommen.
Der Ältere schüttelte erneut den Kopf. „Wenn du meinst, dann versuche es.“, gab er nach.
„Reite zurück auf die Ranch, ich komme, sobald ich die Stute an mich gewöhnt habe.“, versprach Steven, noch immer ohne einen Blick von der Stute zu nehmen.
Charlie beobachtete ihn noch eine Weile, dann schüttelte er den Kopf und entschied, zur Ranch zurück zu kehren. Steven würde den Weg sicher finden, sie waren nicht allzu weit weg. Und so, wie er den Jugendlichen kannte, würde der es sogar schaffen, dass ihm die Stute irgendwann vertraute. Er hatte ziemliches Geschick mit den Tieren. So etwas hatte Charlie noch nie gesehen.
3. Angriff der Riesenspinnen
Lachend schüttelte Yas den Kopf. „Nein, Elif. Du musst jetzt schlafen!“ Sie drückte ihre kleine Schwester zurück in ihr Bett, und deckte sie mit einer Decke zu, die ihre Tante für sie gemacht hatte. Wie jeden Abend pustete sie in das Netz des Traumfängers, den Shadi ihrer kleinen Schwester ebenfalls gemacht hatte. Elif war drei Jahre alt. Ihr Name bedeutete Hoffnung in der Sprache der Elfen. Nach der Hochzeit von Alemie und Gaagi hatte es nicht lange gedauert, bis sie ihr gesagt hatten, dass sie ein weiteres Kind erwarteten. Elfen, so lernte Yas bald danach, waren nicht so lange schwanger wie Menschen, sondern nur etwa sechseinhalb Monate. Sháńdíín, die Tochter von Mósí und Tsiishch'ili, wurde nur wenig vorher geboren.
Jayla und T'iis waren noch immer zusammen, er war der Gefährte der Elf e , die inzwischen alt genug war, um den Menschen als solchen sicher zu erkennen. Doba und Ella waren ebenfalls verheiratet und stolze Eltern eines kleinen Jungen, der nun bald zwei Jahre wurde. Doli, K'ai, Bidziil und Gad hatten ebenfalls Frauen an ihrer Seite, wobei Doli von einer Elfe fasziniert war. Sie waren keine Gefährten, so wie Jayla und T'iis oder Alemie und Gaagi, aber Siba liebte Doli dennoch sehr. Bidziil und Gad hatten bereits Kinder: Ooljéé‘, die Tochter von Bidziil und seiner Frau Lika aus einem der Dörfer, war nun vier Wochen alt, sie war beim letzten Vollmond geboren worden. Gads Sohn, Shash yáázh, war etwas über eineinhalb Jahre, und der ganze Stolz seines Vaters, der mit Salin, einer Frau aus einem anderen Dorf verheiratet war.
Manaba und Eluan waren ebenfalls ein Paar, lebten auf einem Ahorn, den der Elf für sie eingerichtet hatte. Sie waren keine Gefährten, aber ein Wächterelf suchte sich immer einen starken, meist männlichen Partner, um seine Aufgabe ohne Bedenken erfüllen zu können. So mussten sie nicht um ihre Partnerin Angst haben, hatte Eluan erklärt.
Das Dorf lebte aufgrund der Partnerschaften und der daraus entstehenden Kinder langsam auf. Gaagi war stolz auf seine Töchter und freute sich auf sein drittes Kind. Sánis Abschiedsworte an ihn waren prophetisch gewesen. „Du wirst wieder leben, wenn du endlich eine Familie hast, und dann bist du der perfekte Häuptling für den Stamm.“ Nur einige Wochen später wurde Elif geboren, und er fühlte sich so lebendig wie seit vor Yas‘ Geburt nicht mehr.
Jetzt beobachtete er mit leuchtenden Augen, wie Yas ihre kleine Schwester dazu überreden wollte, endlich zu schlafen. Er hatte inne gehalten, konnte sich nicht sattsehen an seinen Töchtern. Nie würde er vergessen, wie es war, alles zu verlieren, was einem wichtig war. Dennoch musste er sich losreißen, denn Ma’ee, der jetzt der Älteste war, und einige Sprecher aus benachbarten Dörfern warteten sicher schon auf ihn. Es gab einige Dinge zu besprechen, wie es schien.
Also ging er lautlos über die Baumstamm-Treppe nach unten und hielt auf die Höhle zu. Die nutzten sie noch immer für derartige Versammlungen. Sie hatten gemütliche Sitzplätze geschaffen, eine Feuerstelle hielt sie auch jetzt im Winter warm, und man saß trocken. Da es gerade schneite, war das ein wichtiger Punkt. Akhito betrat die Höhle gemeinsam mit ihm. Er lebte nicht hier, verbrachte aber viel Zeit mit ihnen, denn sie hatten sich angefreundet. Meist brachte er Xedila mit, die sich dann mit Alemie und Jayla traf, fast immer waren auch Mósí, Shadi und Yas dabei.
Ma’ee saß bereits an seinem Stammplatz und unterhielt sich mit Jack und Cameron, den Dorfsprechern der beiden ihnen nächsten Orte. Diese lagen östlich vom See, etwa eine Tagesreise entfernt. Die Männer standen auf und begrüßten einander, dann setzten sie sich. Gaagi reichte ihnen Becher mit Elfenwein und Akhito stellte eine Schale mit Früchten in die Mitte.
Eine Weile schwiegen sie, dann erst ergriff der Häuptling das Wort. „Jack, Cameron, ihr sagtet, es gibt alarmierende Neuigkeiten?“, wollte er wissen.
„Allerdings.“, nickte Jack nach einem kurzen Blickwechsel mit Cameron, der ihm mit einem Blick zu verstehen gab, dass er sprechen sollte. „In den letzten Wochen verschwanden immer wieder Menschen und Tiere aus unseren Dörfern. Anfangs waren wir nicht weiter besorgt, schließlich ist jeder von uns frei zu gehen, wohin er oder sie möchte, auch wenn es ungewöhnlich ist, dass man niemandem sagt, wohin man geht. Aber nun haben wir mehrere Zeugen, die berichten, dass die Spinnen sich immer wieder aus dem Wald heraus wagen und angreifen. So aggressiv sind sie noch nie vorgegangen, außer man wagte sich in den Wald. Wir sind nicht in der Lage, den Spinnen Einhalt zu gebieten, und bitten daher um eure Hilfe. Ihr seid kampferprobt, auch wenn ich weiß, dass ihr hier in Frieden leben wollt. Doch nur durch den See seid ihr vom Wald getrennt, und ich befürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch zu euch vordringen. Und gerade eure Kinder sind ihnen dann hilflos ausgeliefert.“
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