Frau Goreck schreit auf: „Lars, du hast dem Markus ein Bein gestellt. Das habe ich genau gesehen.“
„Nein“, ist alles, was ich entgegnen kann.
Frau Goreck besteht auf ihrer Beobachtung. „Ich habe ganz genau gesehen, wie du dein Bein ausgestreckt hast.“
Jetzt meldet sich Markus zu Wort. „Frau Goreck?“
„Ja, Markus?“
„Der Lars hat mir kein Bein gestellt. Ich bin über eine Tasche gestolpert.“
„Hinsetzen. Abschreiben!“ Frau Goreck geht auf den Fall nicht weiter ein. Stattdessen displayed sie eine neue Aufgabe auf der Medienwand. Sie hätte sich eigentlich bei mir entschuldigen können. Meine Würde ist auch unantastbar. Eigentlich. Aber ich sage besser nichts. Pädagogik hin oder her. Wer weiß, was sie außer dem Wort „fechten“ noch für mich aus dem Hut zaubern würde.
In der kurzen Pause gehe ich zu Markus. „Danke, dass du mich verteidigt hast, Markus.“
„Ich habe nur die Wahrheit gesagt und die Sache richtiggestellt, Lars.“
Ich finde das sehr … ja, wie? … Ehrenhaft. Ich finde das sehr ehrenhaft.
Aber bevor ich das aussprechen kann, kommt mir Markus mit einem Grinsen zuvor: „Dass ich Lisa klarmachen werde, ist auch die Wahrheit. Du wirst schon sehen.“
Da geht mir auf, dass ich es Lisa immer noch nicht gesagt habe. Mir wird eiskalt. Markus darf mir auf keinen Fall zuvorkommen.
Heute Nachmittag habe ich Lisa zum Tee eingeladen. Sturmfreie Bude. Papa ist bei der Schülernachhilfe in der Alten Nikolaikirche. Ich bin nicht wie sonst mitgegangen.
Ich weiß, dass Lisa Earl Grey mag. Ich habe den Tee ganz frisch im Teeladen an der Neuen Kräme gekauft. Dort, wo es schon vor dem Geschäft so gut nach Tee und Gewürzen riecht. Einen Beutel Frankfurter Freches Früchtchen habe ich auch gekauft. Den schenke ich Lisa. Passt irgendwie. Riecht auch sehr gut. Nach Brombeeren.
Ich habe die beiden Sitzkissen am kleinen Glastischchen in meinem Zimmer ganz nah zusammen gestellt. Der Tee ist gekocht. Alles ist vorbereitet. Lisa kann kommen.
Es klingelt.
Ich habe Herzklopfen. Heute ist der Tag. Ich prüfe den Sitz meiner Haare im Flurspiegel. Ist OK. Ich öffne. „Hallo Lisa.“
„Hi, Lars. Da bin ich.“
Ich schließe die Tür.
„Riecht gut nach Tee, Lars.“
„Ja. Ich habe Earl Grey gekocht. Und ich habe noch eine Überraschung für dich.“
„Überraschungen mag ich.“ Lisa grinst mich an. Sie betritt mein Zimmer. Bevor sie sich setzt, schiebt sie erst einmal ihr Sitzkissen von meinem fort.
Hm.
„Was für eine Überraschung ist es denn?“
Ich reiche ihr das verpackte Geschenk.
Lisa öffnet es. „Oh. Ein Frankfurter Freches Früchtchen . Das riecht gut. Danke, Lars.“
Ich schenke uns den Earl Grey ein. Ich habe seit Weihnachten ein eigenes Teeservice. Das kommt heute zum ersten Mal so richtig zum Einsatz. Es ist aus dunkelblau getöpfertem Ton.
Wir trinken.
Der Moment ist gut. Jetzt ist der Zeitpunkt. Bevor ich meinen Mund aufmachen kann, spricht Lisa.
„Unsere Konfirmation ist nächstes Wochenende. Kennst du schon deinen Konfirmandenspruch?“
„Nein. Ich habe Hannah gebeten, mir einen auszusuchen.“
„Kommen Hannah und Johannes auch nächstes Wochenende aus Heidelberg?“
„Ja. Das ist doch selbstverständlich.“
„Mein Vater sagt immer, dass Hannah früher eine ganz patente Diakonisse war. Sie konnte richtig anpacken und war sich für nichts zu schade.“
„Ja. Ich glaube auch, dass sie das Diakonissenkrankenhaus echt vorangebracht hat.“
„Ich habe mir meinen Konfirmandenspruch selbst ausgesucht.“
„Und, Lisa?“
„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Psalm 18,30.“
Ich lache. „Der passt zu dir. Obwohl, wenn ich es recht überlege, dann müsste es heißen ‚Mit meinem Gott kann ich über Mauern segeln .‘“
Jetzt lacht auch Lisa.
„Lisa?“
„Ja, Lars?“
„Ich wollte dir sagen, dass…“
Plötzlich.
Die Wohnungstür wird geöffnet.
Lachen.
Papa.
Das andere Lachen – das muss Heidi sein.
Schon jetzt? Es ist doch gerade erst vier Uhr.
Es klopft an meine Tür. Papa. „Hallo Lisa, hallo Lars.”
„Ihr seid schon da?“
„Ja. Heute ist doch ab 16.00 Uhr das Konfirmandentreffen mit Pastor Albert. Seid ihr zwei da nicht dabei?“
Lisa schlägt sich auf die Stirn. „Vergessen. Total vergessen. Komm, Lars. Wir schaffen das noch.“
Wir lassen den Tee zurück. Und ich muss auch von meiner romantischen Stunde mit Lisa ablassen. Ein anderes Mal. Wir eilen zur Alten Nikolaikirche. Ich komme ganz außer Atem. Keine Zeit für Gefühle. Keine Zeit für Romantik. Keine Zeit für Lars Krönleins Herzensanliegen. Wir kommen nur wenig zu spät.
Liebes Tagebuch,
Pastor Albert ist ein lässiger Typ. Heute sprachen wir über unsere Konfirmation. „Confirmare“ ist lateinisch und heißt „bestätigen“. Wir bestätigen den Glauben an Jesus Christus, den anfangs unsere Taufpaten für uns aufgebracht haben. Meine Taufpatin ist Hannah. Damals, als ich getauft wurde, war sie noch Diakonisse, hier im Krankenhaus Sachsenhausen in der Schifferstraße. Ich weiß 100%ig, dass Hannah all die Jahre und bis heute für mich gebetet hat.
Ich werde nicht vergessen, wie down und niedergeschlagen Papa war, bevor er nach dem Tod Mamas zu Hannah und Johannes nach Heidelberg gefahren ist. Er hat mir keine Einzelheiten gesagt. Nur so viel, dass Hannah für ihn zum Wegweiser wurde. „Hannah hat mir gezeigt, wer wirklich das Leben ist und wer echt trösten kann", hat Papa damals festgestellt.
Hannah hat Albert schon meinen Konfirmandenspruch geschickt. Hat er gesagt. Ich kenne den Spruch allerdings noch nicht. Ich bin neugierig.
Lisa hat sich ihren Konfirmandenspruch selbst ausgesucht. Typisch Lisa eben.
Papa hat erzählt, dass wir mit Lisas Familie und unseren Gästen auf dem Römerberg essen werden. „Zum Standesämtchen“ heißt das Restaurant. Und dann schaute Papa für einen kleinen Moment ganz traurig. Aber dann hellte sich seine Miene wieder auf.
Ich fragte Papa, ob Heidi auch kommt. Und er sagte, sie komme, wenn ich einverstanden sei. Aber an Papas Augen sah ich, dass er sich freuen würde, wenn sie kommt. Na, und Hannah wird sich auch freuen, schließlich sind die beiden seit Heidis Seelsorgedienst im Diakonissenkrankenhaus miteinander befreundet.
Passt schon.
Wie kann ich Lisa sagen, dass ich sie liebe? Oder besser: wo?
Die Teestunde war prinzipiell ideal. Aber Papa hängt meist zuhause. Das passt dann nicht so. Ich muss mit Lisa ungestört sein. Und wenn ich sie dann küssen werde, sowieso.
Palmengarten. Der Palmengarten ist eine Lösung. Ich werde Lisa fragen, ob sie am Samstag vor der Konfirmation mit mir in den Palmengarten geht. Genau. So mache ich das. Am besten rufe ich sie jetzt noch an und frage sie.
„Hallo Lisa. Wir können los.“ Ich hole sie zuhause ab.
„Hi, Lars. Macht es dir etwas aus, wenn meine Eltern, mein Onkel und meine Tante mitkommen? Sie sind zu meiner morgigen Konfirmation schon heute aus Regensburg angereist.“
Nein sagen kann ich nicht. Irgendwie blöd. Naja. Ich sage: „Ja. Das ist in Ordnung.“
„Du machst aber ein Gesicht, als hättest du in eine saure Zitrone gebissen, Lars.“
Ich lächele, so gut ich kann.
„Mein Onkel ist Zahnarzt an der Uniklinik. Mein Vater zieht ihn immer auf und sagt, aus ihm sei nichts geworden. Mein Vater sagt immer, mein Onkel sei ja kein richtiger Arzt. Und dann sagt mein Onkel immer, er wisse wenigstens, was er tut. Im Gegensatz zu meinem Vater.“
„Was? Ein Chirurg weiß nicht, was er tut?“
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