„War es den so schlimm, ein Pole zu sein?“, fragte ich.
Opa machte ein trauriges Gesicht. „In Oberschlesien lebten Deutsche und Polen lange friedlich zusammen. Aber nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine neue Grenze gezogen und da gab es Streit. Und dann machten die Nazis die Polen zu Untermenschen, die keine Rechte mehr hatten, sodass sie alles mit ihnen machen konnten, was sie wollten. Ich hätte es besser wissen müssen, weil ich polnische Verwandte hatte. Aber ich ließ mich von Siegfried blenden, weil ich ihn bewunderte, weil ich glaubte, ich wäre durch einen Eid an ihn gebunden. Und ich wollte ein Kämpfer sein, kein Schlappschwanz!“
Er pfiff schwach durch die Zähne. „Dabei gingen Wahrheit und Gerechtigkeit flöten!“
Wir machten es uns bequem und Opa fing gleich an.
Die Schüler der Parallelklasse kamen zu uns, weil ihr Lehrer zur Truppe musste . Da herrschte viel Unruhe und Gedränge, wie ihr euch vorstellen könnt. Stühle wurden geholt, einige Jungen standen an den Wänden. Aber Kretschmar, unser Klassenlehrer , der mit seinem Holzbein nicht Soldat wurde, sorgte für Ordnung und für genügend Sitzplätze. Dann holte er jeden nach vorn; der hatte sich kurz vorzustellen und dann zu geloben, sich immer anzustrengen und nie den Unterricht zu stören. Als ich vorn stand, konnte ich kaum etwas sagen. Ich war so nervös, dass ich zu stottern begann.
Ob ich nicht deutlicher sprechen konnte, fragte Kretschmar.
Alle starrten mich an, der Kloß in der Kehle wurde größer, ich bekam gar nichts heraus.
Kretschmar trat auf mich zu. Er roch nach Tabak und Kreide. „Der erste Eindruck ist wichtig“, rief er und stieß mit seinem Holzbein auf den Boden. „Es kommt auf die Haltung an. Nicht wie ein Fragezeichen, das verrät Unsicherheit!“
Alle lachten.
„Sondern wie ein Ausrufezeichen!“ Er schlug mit seinem Gehstock auf meine Brust und auf meinen Rücken. „Das ist Geradheit, Stärke, Ausdruckskraft!“
Ich schlich zu meinem Platz zurück. Volker saß neben mir und schien von mir abzurücken. „Fühlst du dich von Kretschmar ungerecht behandelt?“, fragte er in der Pause.
Ich bejahte.
„Dann lass dir nicht alles gefallen!“
Er hatte Recht. Ich musste stärker werden, durfte keine Schwäche zeigen. Die Neuen in der Klasse hatten sicherlich keinen guten Eindruck von mir.
Erwin, der Gorilla, war von der Parallelklasse zu uns gekommen und grinste mich an. „Zeig dem alten Knacker, dass du Ehre und Stolz im Leibe hast!“ Er reichte mir ein Gummiband und ein paar Papierkrampen. „Knall sie ihm in die Fresse! Dann können wir ja mal seine Haltung bewundern. Fragezeichen oder Ausrufezeichen?“ Er grinste noch stärker.
Eigentlich wollte ich mir vom Gorilla nichts sagen lassen, aber er hatte Recht. Ich musste der Klasse zeigen, dass ich kein Schlappschwanz war. In der nächsten Stunde wartete ich auf eine günstige Gelegenheit. Direkt aufs Gesicht konnte ich nicht zielen, dann hätte mich Kretschmar sofort gesehen. Aber als er uns den Rücken zukehrte, um etwas an die Tafel zu schreiben, nahm ich mir sein großes rechtes Ohr vor. Ich musste mich wie beim Schießen konzentrieren, wartete auf die Leere, die keine Erschütterung zuließ, zog das Gummiband durch. Die Krampe traf!
Kretschmar schien wie erstarrt, damit hatte er nicht gerechnet. Das ließ mir zum Glück die Zeit, Gummiband und Krampen in meine Hosentasche zu vers enken . Dann drehte sich Kretschmar um, sein Gesicht war knallrot.
„Wer hat das getan?“ Seine Stimme war ein gefährliches Flüstern. „Aufstehen!“, brüllte er. „Alle Mann neben die Bänke!“
Wir standen auf, stellten uns neben die Schulbänke.
„Ihr bleibt so lange stehen, bis der Schuldige gesteht oder genannt wird!“
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Würde mich einer verraten? Erwin könnte mir eine Falle gestellt haben, Günther nur auf die Gelegenheit warten, mich fertig zu machen, Rolf, der Streber, stand immer auf der Seite der Lehrer und die Neuen kannte ich nicht. Aber noch sagte keiner etwas. Man hörte nur Kretschmars hastiges Atmen. Er setzte sich auf seinen Stuhl, zog das Klassenbuch heran, schlug es auf. „Stefan Adamowitz!“, rief er. „Komm nach vorn!“
Er war der erste im Alphabet, ich der dritte. Wäre ich gleich dran? Mein Herz schlug wild.
„Stefan“, hörte man Kretschmar, „wenn du mir den Täter nennst, wird dir nichts passieren. Sonst muss deine Mutter kommen.“
Stefan erschrak. „Herr Kretschmar! Ich sitze vorn und habe nichts gesehen. Ich glaube, dass es von hinten kam.“
„So“, sagte Kretschmar, „das glaubst du also.“
Er ließ sich die Namen der Schüler der ersten und zweiten Reihe geben. Es waren zwölf, die er in der Liste abhakte. Ich saß in der dritten Reihe, hatte also nichts gewonnen. Aber Kretschmar nahm sich die letzte Reihe vor. Das war auch nicht viel besser, weil jeder hinter mir es gesehen haben konnte.
Günther Ronge wurde aufgerufen. Sein Blick streifte mich. Er hatte mich gesehen und legte mich rein! Mir wurde fast schwarz vor Augen. Aber Günther schüttelte den Kopf. Er hatte abgeschrieben, was auf der Tafel stand. Er wusste gar nicht, was passiert war.
„Ach, du wusstest nicht, was passiert war“, wiederholte Kretschmar höhnisch. „Hoffentlich wirst du später wissen, was im Unterricht passiert!“
Aber Günther hatte das Stichwort für die folgenden Schüler geliefert. Alle versicherten, von der Tafel abgeschrieben und nichts gesehen zu haben. Es war deutlich zu erkennen, wie Kretschmars Wut wuchs. Und bei Fritz, einem schmächtigen, schüchternen Jungen, explodierte er. Er hielt das Klassenbuch hoch und schien es mit einem mächtigen Schlag auf seinen Kopf niedersausen zu lassen. „Verdammter Bengel!“, schrie er. „Ich mache dich fertig, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst!“
Fritz duckte sich und fing an zu weinen. Zuerst war es ein leises Wimmern, aber dann schluchze er so schrill und grell, dass man sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Kretschmar sah ihn angewidert an: „Hör auf zu flennen! Es ist unerträglich!“
Aber Fritz wollte oder konnte nicht aufhören. Bis er seine Adresse nennen musste. Kretschmar wollte nach seiner Mutter schicken, wenn er nicht sofort still war und den Namen des Missetäters sagte.
Fritz war sofort ruhig und ließ noch einen erleichterten Seufzer hören. „Nein, nicht meine Mutter!“ Und dann zeigte er auf mich. „Der war's!“
Kretschmar richtete einen bitterbösen Blick auf mich. „Also du!“ Er schien enttäuscht, fast traurig. „Du gibst es zu?“
Ich konnte nur nicken.
„Zu feige, um zu deiner Tat zu stehen!“
Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
„Hättest du dich gleich gemeldet, wäre ich geneigt gewesen, Milde walten zu lassen. Dummejungenstreiche hat es immer gegeben, aber man muss zu ihren Folgen stehen!“
Er wandte sich an die Klasse. „Jungs, was immer ihr tut, steht zu euren Taten! Seid euch ihrer Folgen immer bewusst! Sonst werden sie über euch kommen, und es wird Heulen und Zähneklappern sein!“
Seine Augen erfassten mich wieder. „Komm nach vorn, damit du dir der Folgen deiner Tat bewusst wirst! Auch du sollst mit einem knallroten Ohr durch die Welt wandeln!“
Er ließ sich von Rolf, dem Streber, die Malsachen aus dem Schrank geben und suchte sich die Tube mit der roter Farbe aus. Er sah in die Klasse und fragte, wer denn gern ein Ohr anmalen wollte. Viele Finger flogen hoch und unter dem wiehernden Gelächter der Klasse schmierte mir Günther das Ohr rot ein. Wenn ich hochschaute, blickte ich in schadenfrohe Grimassen. Erwin und Günther lachten am lautesten. Nur Volker sagte nicht s . Jeden Morgen achtete die Klasse darauf, dass mein rechtes Ohr die rote Farbe nicht verlor.
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