Opa wischte sich den Schweiß von der Stirn und Johanna rief, dass sie es schrecklich fand, wenn die Jungen sich immer schlagen mussten. Ich aber sagte, Kämpfen war okay, es musste nur fair sein, das war es aber nicht, weil Opa so einen fiesen Typ von Führer hatte.
„Wir kannten nicht das Wort 'fair'“, seufzte er. „Stattdessen hieß es: 'Gelobt sei, was hart macht!' und Hitler wollte die Jugend hart wie Kruppstahl haben und all die vielen Führer unter ihm waren froh und stolz, auch befehlen zu dürfen. Und so bekam ein Ernst Weiß, der kaum älter war als ich, Macht in den Händen, und die nutzte er aus.“
„Und warum hat es dieser Ernst Weiß gerade auf dich abgesehen, wo du doch einen berühmten Vater hattest?“, fragte ich.
„Neid, vermute ich. Wahrscheinlich hätte er auch gern einen berühmten Vater gehabt. Und dann gehörte Ernst Weiß zu den Typen, die bei anderen schnell die Schwächen erkennen, und das nutzen sie gnadenlos aus.“
Johanna fing sofort mit einer Liste von Typen an, die auch so waren. Ich kannte auch jede Menge, wollte aber lieber zuhören.
Die anderen fanden meine Niederlage normal, weil Erwin eben der beste Boxer war, und jeder sich freute, dass es ihn nicht erwischt hatte. Aber Ernst Weiß musste seinen Senf dazugeben und mit einem Blick voller Verachtung auf mich verkünden, dass ein Hitlerjunge im Prinzip zu siegen hatte, wenn er aber verlor, diese Scharte auswetzen musste. Es bedeutete, dass ich, als wir schließlich das Zelt aufschlugen, das Feuerholz aufschichtete und die Gurkensuppe im großen Topf herumrührte. Wir alle waren müde und wollten schlafen, er aber war nicht müde, er hatte kein Stück getragen, kein Stück mitgearbeitet, er rannte hin und her, schnauzte uns an und ließ seine Sprüche los.
Er sprach von dem ewigen Gesetz, nach dem der Starke den Schwachen besiegte, weshalb wir stark sein mussten, was hieß, dass wir unsere Schwächen zu überwinden hatten, die da wären Faulheit, Feigheit, Ungehorsam und Herum-nörgeln, worunter ihm das Nörgeln am wenigsten gefiel, denn der Nörgler stellte sich außerhalb der Gemeinschaft. So wollte doch keiner von uns werden. Oder?
Er stand am Lagerfeuer und aus seinen Augen blitzte es und er befahl, als keiner sich rührte, dass wir stramm standen und das Führerlied sangen. Dann durften wir essen, aber ich mochte die fade Gurkensuppe nicht, und den anderen erging es ähnlich und wir legten bald die Löffel beiseite und hofften auf das Ende des Essens, weil wir nach dem Abwasch in unser Zelt konnten, wo wir unter uns waren. Ernst hatte sein eigenes Zelt, seine Kapitänskajüte, wie er sagte.
„Hoffentlich verlässt er auch als letzter das Schiff, wenn alles untergeht“, flüsterte Volker Wiese und wir glucksten und lachten erst richtig los, als Ernst in seinem Zelt verschwunden war. Dann waren wir unter uns und konnten mit dem Lästern anfangen. „Ernst Scheiß!“, sagte Günther, „Ernst Scheißkerl!“, sagte Rudi und fragte, ob wir wussten, dass Ernst Scheißkerl bei der Rassenprüfung durchgefallen war. Keiner wusste es und er erzählte, dass der Scheißkerl sich für die Napola in Loben beworben hatte, wo nur rassisch reine Jungen aufgenommen wurden. Die Ärzte vermaßen die Schädel und befanden, dass der Scheißkerl zu dreiviertel ostisch war, weshalb er nicht in die Schule der Herrenmenschen durfte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihn nicht als rassisch unrein einstuften, und ein Arzt wollte ihn sogar zu den Ostjuden schicken, so eine fatale Ähnlichkeit hätte er mit ihnen. Wir lachten, bis uns der Bauch wehtat.
Ich verstand nur Bahnhof und bat Opa uns zu erklären, was das alles bedeutete.
„Napola war die Nationalpolitische Lehranstalt, ein Internat der Nazis, zu dem nur zugelassen wurde, wer die richtige Rasse hatte. Was bedeutete, dass man einen nordischen Schädel haben musste. Wenn man den nicht hatte, war man schon ein halber Untermensch!
Johanna wackelte mit ihrem Kopf und wollte doch tatsächlich wissen, welchen Schädel sie hätte.
Opa sagte ihr die Meinung. „Das ist doch alles Quatsch! Die Naziführer selbst waren ja keine nordischen Typen. Sie träumten aber von einer germanischen Kriegerrasse, weil man immer das gern sein möchte, was man nicht ist!“
Am nächsten Morgen wurden wir von unserem Führer viel zu früh geweckt, als ob er gehört hätte, was über ihn gesagt wurde. Er stand gestiefelt und gespornt vor uns und musste wieder über die starken Frühaufsteher und die schwachen Langschläfer labern. Wir hörten gar nicht hin, machten uns über das Frühstück her, das uns besser schmeckte als das Abendessen, weil Erwins Mutter Erdbeermarmelade mitgegeben hatte. Aber er hörte nicht auf, uns mit seinen Morgensprüchen zu triezen, doch er merkte nicht, dass ihm die Marmelade in den Mundwinkeln klebte. So konnten wir ihn nicht ernst nehmen, obwohl er so hieß.
Opa lächelte und wir lächelten mit.
Opa sah schon am Anfang traurig aus . Er musste uns von seinem Vater erzählen, dem Tatschick, den er über alles geliebt hatte. Deshalb war er ja auch ein begeisterter Hitlerjunge geworden.
Wir holten uns wieder was zum Trinken und er begann:
An einem Morgen, kaum war ich aufgestanden, kam Muttel mir entgegen und sah mich mit unheimlich flackernden Augen an. Sie sagte, dass sie den Tatschick gesehen hatte, der mitten in der Nacht vor ihrem Bett stand. Omi rief „Jesusmaria!“ und bekreuzigte sich und mir wurde ganz mau, so unheimlich war das. Es musste ein Traum gewesen sein, der nichts Gutes verhieß.
Aber Muttel sagte ganz ruhig, dass der Tatschick friedlich, fast fröhlich ausgesehen hatte und ihr so nahe gewesen war, dass sie ihn spüren konnte. Sie hörte von ihm, sie sollte sich keine Sorgen machen, es wäre alles gut. Ob er nach Haus kam, fragte sie und er antwortete lächelnd Ja, und als sie wissen wollte, wann, sagte er, wenn es Zeit war, und beugte sich über das Bett und sie wollte ihn an sich ziehen, aber da war er verschwunden.
Muttel hatte ein gutes Gefühl, weil sie sicher war, dass er einer schweren Gefahr entkommen war und bald zurückkehrte, aber Omi schüttelte den Kopf und begann zu beten. Sie beschloss, in den nächsten Tagen zum Annaberg hoch zu pilgern, denn hier konnte nur die heilige Anna helfen.
In den nächsten Tagen kam ein Paket mit dem persönlichen Besitz eines Oberleutnants Otto Baran, das uns schrecklich in die Glieder fuhr, sodass keiner es öffnen wollte, bis Muttel rief, dass der Tatschick nicht Otto hieß, sondern Paul, und Leutnant war, nicht Oberleutnant, also eine Verwechslung vorliegen musste. Aber den beiliegenden Brief ließ sie mit blassem Gesicht sinken und rief: „Nein, nein!“
Opa nahm den Brief vom Tisch, den er dort hingelegt hatte, und las:
„Im Felde, den 20.5.1944. Sehr geehrte Frau Baran! Ihr Gemahl, Herr Oberleutnant Otto Baran, ist von einem Flug auf feindlichem Gelände westlich von Odessa nicht zurückgekehrt. Wir sind gezwungen, anzunehmen, dass Ihr Gemahl im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland, gefallen ist. Ich spreche Ihnen im Namen seines Jagdgeschwaders meine wärmste Anteilnahme aus. Wir werden Ihrem Gemahl stets ein ehrendes Andenken bewahren und in ihm ein Vorbild sehen. Die Gewissheit, dass Ihr Gemahl für die Größe und Zukunft unseres ewigen Deutschen Volkes sein Leben hingab, möge Ihnen in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat, Kraft geben und Ihnen ein Trost sein. In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie mit Heil Hitler.“
Ich sagte: „Krass!“, und Johanna rief: „ Was ist das denn für ein Idiot!“
Читать дальше