Am schlimmsten war es in der Kameradschaft, wo Ernst Weiß sich geradezu freute, mich an den Heldentod meines Vater zu erinnern. Ich erfüllte nie seine Erwartungen, er hatte immer etwas an mir auszusetzen. Da wurde ich krank, was wohl mein Protest war . Ich bekam Kopfschmerzen, Schwindelanfällen, hatte Husten und Fieber, alles das, w as mich von der Schule und dem Kameradschaftstreffen fernhielt .
Die Folge war, dass ich von der Schule einen Brief bekam, in dem ich als faul und desinteressiert beschrieben wurde. Außerdem machte man Muttel darauf aufmerksam, dass mein Verhalten in der HJ durch Ungehorsam und Disziplinlosigkeit geprägt war. Sollte ich mich nicht bessern, müsste ich mit ernsten Folgen rechnen. Was damit gemeint war, wusste ich: Rückstufung in eine untere Klasse oder Schulverweis.
Muttel hatte Tränen in den Augen, als sie den Brief las. Gut, dass es der Tatschick nicht wusste, sagte Omi. Er würde seinen Sohn nicht verstehen, auf den er doch so große Stücke hielt!
Das hätte sie nicht sagen sollen! Ich rannte hinaus, schlug die Tür hinter mir zu, warf mich auf das Bett in meinem Zimmer, zog die Decke über mich. Keiner verstand mich, und der einzige, der mich verstehen würde, konnte nicht kommen!
Und dann kam einer, der mich verstand, jedenfalls glaubte ich das. Ich lag allein zu Hause und hatte meine Ruhe. Muttel arbeitete in einer Munitionsfabrik und Omi musste zur B- & V-Stelle, das war die Betreuungs- und Verpflegungsstelle des Roten Kreuzes für kriegsverletzte Soldaten. Ich wollte es mir gerade bequem machen und ein Heft über Deutschlands tapfere Flieger lesen, als es klingelte. Überrascht ging ich an die Tür. Da stand ein junger Mann in der Uniform der Hitlerjugend, die so sauber und ordentlich aussah, als hätte er sie gerade gekauft. Er ließ den Arm nach oben schnellen und sagte zackig: „Heil Hitler!“
Ich wich erschrocken zurück, weil der Arm mich fast getroffen hätte und murmelte den Gruß zurück. „Lauter!“, rief er und ich beeilte mich deutlich „Heil Hitler!“ zu sagen.
Der junge Mann nickte und stellte sich als Siegfried vor, der den Auftrag erhalten hatte, mich auf Vordermann zu bringen. Dabei blitzten seine blauen Augen und ich schaute ihn fast ehrfürchtig an. Er war groß, blond und kräftig und sah wie der leibhaftige Siegfried aus, der Drachentöter. Die „ Nibelungen“ hatten wir gerade im Stadttheater gesehen. Ich hätte ihn gern als großen Bruder gehabt, das war mein erster Gedanke.
Er aber wollte als erstes mein Zimmer sehen. Ich stand beinahe stramm und führte ihn in mein Zimmer, das sehr unordentlich aussah. Er schaute sich auch missbilligend um, rückte die Bilder an der Wand gerade und ließ sich meine Schulbücher zeigen. Er klickte mit der Zunge, als ich im Ranzen kramte und eine Federtasche zu Boden fiel. Er sah auf mich herunter: „Das ist eine Sauordnung, das siehst du hoffentlich ein!“
Ich musste alles herausholen: Hefte, Bücher, Schreibzeug, Schulmaterial und getrennt stapeln und die Haufen in die verschiedenen Innen- und Seitentaschen des Ranzens legen. Dann gab Siegfried das Kommando: „Rassenkunde!“, „Rechnen!“, „Deutsch!“ Und ich hatte sofort das genannte Buch mit dem Heft auf den Tisch zu legen. Das Heft, das Volkskunde und Rassenkunde enthielt, war durch zwei neue zu ersetzen: Jedes Fach hatte ein Heft, das verlangte die Ordnung, die einfach und überschaubar sein musste. „Ohne Ordnung“, sagte Siegfried streng, „wirst du keine Fortschritte machen!“
Er duldete keinen Widerspruch und war strenger als meine Lehrer. Selbst Kretschmar konnte freundlich sein, mich sogar trösten, wenn ich eine schlechte Arbeit schrieb. So was gab es bei Siegfried nicht. Seine blauen Augen blitzten zornig, wenn ihm etwas nicht gefiel, und das war für mich wie ein Schlag ins Gesicht, sodass ich ihn schuldbewusst anblickte und alles tun wollte, um ihm zu gefallen.
Opa griff nach seiner Tasse Tee und ich sagte, dass ein Typ, der so auf Ordnung hielt, mich verrückt machen würde.
„Ordnung ist ja an sich nicht Schlechtes“, sagte Opa. „Wenn alles an seinem Platz ist, brauchst du nicht lange zu suchen, und wenn du etwas ordentlich machst, bekommt du ein gutes Ergebnis, und Ordnung ist zum Beispiel im Straßenverkehr überlebenswichtig, wie ihr w isst . Und ein ordentlich aufgeräumtes Zimmer sieht besser aus als ein unordentliches, oder nicht?“
Johanna lief rot an, denn ihr Zimmer ist ein Chaos und deshalb kriegt sie oft Ärger zu Hause. Aber ich verstehe schon, dass die Älteren mehr Wert auf Ordnung legen, denn so etwas wie kreatives Chaos können sie nicht verstehen.
Ich war jedenfalls von Siegfrieds Ordnung sehr angetan. Oder genauer gesagt, von seiner Person, die diese Ordnung verkörperte. Alles an ihm war korrekt-ordentlich, der Haarscheitel, das gebügelte Hemd, die saubere Hose, das blitzende Koppelschloss, die geputzten Schuhe. Wie er das hinkriegte, war mir ein Rätsel, denn ich schaffte es nie, so ordentlich auszusehen.
Oh Gott!, dachte ich. Wie schrecklich! Aber ich wollte ihn nicht unterbrechen.
Johanna aber rief: „Opa, der Typ ist voll krass peinlich! Der würde bei uns kein Bein auf die Erde kriegen!“
Opa seufzte. „ Da magst du Recht haben, Johanna, aber ich kriegte damals kein Bein auf die Erde. Ich hatte das Gefühl, ich versank im Chaos und da sah ich in Siegfried den Retter, der mir half, wieder auf die Beine zu kommen. Außerdem hatte ich mich immer nach dem großen Bruder gesehnt, ich hatte ja keine Geschwister. Der Tatschick hatte die Stelle nur zum Teil eingenommen, er war ja so selten zu Hause. Aber jetzt war er gar nicht mehr da.“
Johanna nickte, das verstand sie.
„ Also gut“, sagte Opa. „Dann machen wir weiter!
Siegfried fand sofort die richtige Stelle im Buch, die ich noch suchen musste. Eine Frage genügte ihm, um meine Schwächen zu erkennen. Er fragte kurz und knapp und wollte kurze und knappe Antworten, am besten Ja oder Nein. Lange Erklärungen waren ihm ein Gräuel, dann unterbrach er mich: Zur Sache! Vieles musste ich auswendig lernen, das meiste in Rassenkunde und Biologie, aber auch mathematische Lehrsätze. Ich machte schnell Fortschritte, schrieb bessere Arbeiten, sodass Omi und Muttel die Augen erstaunt aufrissen und die guten Noten fast andächtig betrachteten. Aber an ihrem Lob lag mir nichts, ich wollte nur Siegfried gefallen, ihm eins seiner seltenen Lächeln entlocken.
Da wollte er einmal mein Fahrrad sehen und war entsetzt, weil es einen Platten hatte. „Flick den Reifen in zwei Minuten!“, forderte er mich auf. Das schaffte ich nicht. Ich machte ja alles ohne Plan und Ordnung, schrie er mich an und verlangte von mir eine Schüssel mit Wasser und ein Glas. Die brachte ich ihm, während er mein Fahrrad kritisch musterte. Dann prüfte er das Ventil, indem er das Wasserglas darunter hielt. Es war dicht, keine Blasen stiegen hoch. Darauf suchte er den Reifen nach Nägeln, Glassplittern und scharfen Steinchen ab. Und erst dann, weil er nichts fand, nahm er den Reifen ab.
Ich wunderte mich. Ich hätte sofort den Reifen abgezogen, um nach dem Loch zu suchen.
Siegfried runzelte die Stirn. „System und Ordnung, darauf kommt es an! Du willst doch keinen polnischen Schlendrian!“
„Nein, nein!“, beruhigte ich ihn. Er lockerte das Ventil, hob den Reifen aus der Felge und zog den Schlauch heraus, bis er ganz frei war. Dann pumpte er ihn langsam auf, legte ihn in die Wasserschüssel, um das Loch zu finden. „Wenn du planmäßig vorgehst, unterlaufen dir keine Fehler. Und du wirst sicherer und schneller.“
Er hatte das Loch gefunden und markierte es mit einem Filzstift. Dann säuberte er die Stelle mit einem Benzinlappen und trug eine Gummilösung um das Loch auf, bevor er den Flicken aufsetzte. Dabei sagte er: „Wir haben seit Jahrhunderten die Polen Schritt für Schritt zurückgedrängt. Warum? Weil sie keine Ordnung haben und nicht planmäßig vorgehen. Stattdessen sitzen sie in der Kirche und beten!“
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