Erst nach einer Woche wurde ich erlöst. Kretschmar erklärte sein eigenes Ohr für normalfarbig und damit fiel der morgendliche Rotanstrich für mich fort. Aber was blieb, war meine Wut auf Kretschmar. Ich konnte ihm nicht verzeihen, mich vor der Klasse so lächerlich gemacht zu haben. Wenn ich ein Lachen hinter meinem Rücken hörte, war ich sicher, dass es mir galt.
Als wir in der Kameradschaft über Volksfeinde sprachen, nannte ich Kretschmar. Der glaubte nicht an den Endsieg, der sprach von den Folgen des Krieges, wo es Heulen und Zähneklappern geben würde.
Mit einem Schlag war es still, lähmend still. Ich wusste, dass Kretschmar nicht über den Endsieg gesprochen hatte, aber aus dem, was er er sagte, war deutlich zu hören, dass er ihn bezweifelte. Denn warum sprach er sonst von Heulen und Zähneklappern?
„Sag das noch mal!“, forderte mich Siegfried auf.
Ich wiederholte es und warf einen Seitenblick auf Günther und Erwin und Rolf, den Streber. Was würden sie sagen? Siegfried wandte sich an sie. „Ihr könnte es bestätigen?“
Ich hielt die Luft an. Günther grinste. „Aber klar doch! Der ist ein Volksverräter, wie er im Buche steht.“ Und die beiden anderen nickten.
„Gut!“, sagte Siegfried und machte eine wischende Handbewegung über den Tisch. „Das hat Folgen!“
Es dauerte nicht lange und Kretschmar kam nicht mehr in die Schule. Zuerst hieß es, er konnte nicht mehr wegen seines Holzbeins, dann, er war eingezogen worden, trotz seines Holzbeins. Aber ein Gerücht hielt sich hartnäckig. Man wollte gesehen haben, wie die Gestapo ihn nachts abgeholt hatte.
Statt Kretschmar bekamen wir Matysek. Der war so alt, dass er bei jedem Schritt schnaufte. Sein Unterricht bestand aus endlosen Monologen. Es war so langweilig, dass wir alle, auch ich, uns Kretschmar zurückwünschten.
„Hast du Schuld gehabt, dass Kretschmar verschwand?“, fragte Johanna.
Ich wollte wissen, wie es mit der Gestapo war, von der ich schon gehört hatte.
Die Gestapo, erklärte Opa, war die Abkürzung für die Geheime Staatspolizei. Sie verhaftete alle, die für die Nazis Feinde waren, und da genügte schon ein kritisches Wort über den Krieg. Sie verschwanden in Gefängnissen oder Lagern und kamen selten zurück. Die Polizei hatte also große Macht. Das nutzten manche Menschen aus, um ihre persönlichen Feinde anzuzeigen, zu denunzieren. Ich hatte damals nicht an die Gestapo gedacht, aber ich hatte Rudi und Kretschmar denunziert. Ich hatte gelogen, um vor Siegfried und meinen Kameraden gut dazustehen . Ich gehörte auch zu den Mitläufern und Mittätern.“
„Das war nicht gut, oder? “, sagte Johanna.
„Du hast Recht“, sagte Opa. „Sei froh, dass wir nicht mehr unter den Nazis leben. Aber ich hatte auch ein schlechtes Gewissen. Ich konnte nicht auf Rudis leeren Platz gucken und wenn Matysek uns fragte, sagte ich nichts, weil ich an Kretschmar dachte.“
Opa wischte sich über die Stirn. „Das entschuldigt natürlich nichts. Nur ist man im Nachhinein immer klüger!“
Er sah uns an. „Gut, machen wir also weiter!“
Meine hübsche Cousine Marie besuchte uns und sagte, sie hatte gehört, dass Rudi meinetwegen die Schule verlassen musste. Ob es stimmte?
Ich schüttelte schnell den Kopf und wurde rot wie eine Tomate. Sie sah mich an mit einem Blick, als wusste sie alles, als wäre ich ein offenes Buch, in dem sie blättern konnte. Sie sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, dass es Zeit für mich wäre, wieder in die Kirche zu gehen. Sie würde mich nächsten Sonntag in aller Frühe zur 7 Uhr-Messe abholen. Sie wollte sicher sein, dass ich nicht verschlief, denn die HJ hatte jetzt sonntags ihre Treffen um 10 Uhr und keiner wollte am Sonntag früher aufstehen, auch die nicht, die sonst in die Kirche gingen .
Ich wollte nicht in die Kirche, durfte es auch nicht, weil ich an den Eid dachte, den ich Siegfried geschworen hatte. Aber ich konnte Marie nicht Nein sagen. Sie sah mit ihren dunklen Haaren, die sie nicht wie die anderen zu einem Zopf zusammengebunden hatte, der feinen, zarten Haut, ihren großen braunen Augen und ihrer klasse Figur so schön aus wie ich mir eine junge Frau gar nicht schöner vorstellen konnte. Sie hatte hier etwas, was sie Siegfried überlegen machte, was ich mir aber nicht eingestehen wollte.
( Wir grinsten, weil es immer so komisch klang, wenn Opa etwas über Mädchen sagte, die ihm gefielen.
Johanna sagte: „Ich finde es gut, dass nicht nur dieser Siegfried Macht über dich hatte.“
„Finde ich auch“, lächelte Opa. „Dann hört mal weiter zu!“
Ich sagte also Marie zu und hoffte nur , es käme was dazwischen, was meinen Kirchenbesuch verhinderte. Es kam nichts dazwischen. Ich ging nur spät ins Bett und wollte alles verschlafen. Aber Marie weckte mich persönlich und wartete so lange auf mich, bis ich angezogen war.
Ich folgte ihr im Halbschlaf und bekam kaum mit, was in der Kirche passierte. Ich schloss lieber die Augen, um meinen Schlaf nachzuholen. Ich wachte auf, als die Orgel zum Abschied toste, und fühlte Maries Hand, die mich in die Sakristei zog, wo der Pfarrer auf uns wartete.
Wir nahmen Platz und er reichte uns ein Stück Brot mit Käse, wozu wir Wasser und er sein Glas Wein tranken. Er guckte mich so bekümmert an, als wäre ich auf ewig verloren, sodass ich gleich den Blick senkte und die Fliesen vor meinen Füßen zählte. Aber dann hörte ich doch hin, weil er von den Starken und Schwachen sprach und sagte, die Starken glaubten, sie könnten alles mit den Schwachen machen, was sie wollten. Da sah ich mich bei den Schwachen, denn ich hatte so oft das Gefühl, dass die Anderen stärker waren als ich.
Gott war aber mit den Schwachen, sagte der Pfarrer. „Was immer ihr einem Schwachen antut, ihr tut es Gott an“, sagte er und beugte sich vor und flüsterte, dass Deutsche und Polen lange friedlich zusammengelebt hatten. Jetzt aber glaubten wir, stark zu sein und unsere Nachbarn schwach, und darum nahmen wir keine Rücksicht mehr und vergaßen Gott, der zwar langmütig und barmherzig war, aber dessen Geduld nicht ewig währte.
Es wurde so still, dass mir die Wanduhr im Ohr tickte und in den Kopf hämmerte, dass ich etwas Verräterisches, streng Verbotenes gehört hatte. De nn jetzt stand der Pfarrer für mich auf der Seite des Feindes, weil er glaubte, dass die Polen die Schwachen waren. Aber sie waren überhaupt nicht schwach! Sie würden uns an die Kehle springen, wenn man ihnen nicht zeigte, wo ihr Platz war. Wenn man mit Milde und Mitleid auf sie zuging, würden sie es kaltblütig ausnützen, wie sie es oft genug in der Vergangenheit getan hatten, als sie uns den Annaberg und die Gruben des Kohlereviers wegnehmen wollten.
Der Pfarrer sah mich erwartungsvoll an und fragte, ob ich beichten wollte. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich hätte es sogar als Verrat angesehen. Nein, ich wollte mit dem Pfarrer und der Kirche nichts mehr zu tun haben! Siegfried hatte Recht und ich hätte auf ihn hören sollen. Mit einem Satz war ich aus dem Raum und lief aus der Kirche, es war mir egal, was der Pfarrer dachte. Ich hörte Marie hinter mir herrufen, aber das war mir auch egal.
Auf der Straße rannte ich weiter, bis ich nach Luft japste und merkte, dass mir wieder einmal die Tränen kamen. Leider weinte ich zu oft. Ich musste mehr Stärke zeigen. Ich musste meinen Eid halten. Hatte ich nicht geschworen, keine falschen Freunde zu haben? Marie war so eine Person! Ich musste ihr klar und deutlich Nein sagen!
„Ich dachte, du mochtest Marie!“, rief Johanna.
„Mochte ich auch, du wirst es später sehen“, kam es von Opa. „Aber zu dem Zeitpunkt war mir Marie zu katholisch, zu polnisch. Und ich glaubte, dass Beides mich schwach machte. Ich wollte aber stark werden.“
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