Die Mütter stehen vor der Herausforderung, Lya Nahrhaftes zwischen die Salatblätter zu schmuggeln, damit sie nicht eine halbdurchsichtige Elfe wird. Neben Gemüse mag Lya Dinge, die nicht zu den Leibspeisen eines Kindes gehören: pikante Oliven – gerade erst hat sie verkündet, dass die leckerer als Eis schmecken – neunzigprozentige Schokolade, Crevetten, Lachs, Rooibos und Kräutertees. Auch Kaffee und Bier würde sie mögen, wenn man sie sie trinken ließe.
Lya hält Essen für ein Hobby, nicht etwas Lebensnotwendiges. Wenn sie am Mittagstisch sitzt, benimmt sie sich, als hätten wir uns zum Basteln eingefunden: Sie entdeckt im Essen Buchstaben, sieht Gesichter oder Tiere, spielt mit dem Besteck oder studiert ihr Tischset.
Neben Salat und Gemüse isst Lya freiwillig Pfannkuchen und Blutpudding (eine schwedische Version von Blutwürsten). Ansonsten bedeutet Essen mit Lya, dass man am Tisch kampiert und auf den nächsten Bissen wartet. Sie plappert fröhlich, während Tove sie wieder und wieder daran erinnert, aus welchem Grund wir uns am Tisch eingefunden haben. Zu Beginn des Essens sagt sie ruhig „ ät nu!“ (iss jetzt) , dann „ ät nu! “ , das sich gegen Ende der Mahlzeit zu einem „ ÄT NU! “ entwickelt und in einem „ ÄT NUU!!“ gipfelt.
Wenn wir Glück haben, nimmt Lya nach dieser Aufforderung eine Gabel voll und plappert mit vollem Mund weiter. Längst ist mein Teller leer, längst möchte ich aufstehen, um etwas Wichtiges zu tun (auf dem Handy herumdrücken, Kreuzworträtsel lösen oder meine Brille putzen). Stattdessen warte ich und klage: „ Det är så tråkig !“ (das ist so langweilig!), aber mein makelloser schwedischer Satz beeindruckt Lya nicht die Bohne: Sie fragt bloß, ob sie einen Nachtisch bekomme. (Mittlerweise ist bei ihr das Interesse an Süßigkeiten erwacht.)
In solchen Momenten frage ich mich: Bin ich tausendfünfhundert Kilometer gereist, um beim Essen eine kleine Schwedin hypnotisiert anzugaffen und bei jedem ihrer Bissen innerlich zu jubeln?
Zwischen den Mahlzeiten ist es nicht besser: Da verschlingt Lya Zitronenmelissen- und Basilikumblätter, die sie aus den Töpfen ihrer Mama stibitzt. Nach ihrem Beutezug haucht sie mir freudestrahlend ihren Kompostatem ins Gesicht. Sie ist so begeistert von Kräutern, dass sie ihren Morgenbrei mit Basilikumblättern garniert und die Garnitur genüsslich vertilgt. Das Basilikum, das Tove im Frühling großzügig sät, wird erbarmungslos leergerodet. So hört man in diesem Haushalt einen weiteren Satz, der auf der Welt Seltenheitswert hat: „Lya, hör auf, meine Kräuter wegzufressen!“
Zu allem Übel ist Lya eine Feinschmeckerin, sie wird dereinst für den Michelin-Gourmetführer arbeiten. Das zeigte sich schon, als sie die erste feste Nahrung zu sich nahm: Gekauften Babybrei lehnte sie ab, da konnte Tove noch so viele Spielzeuge als Ablenkungsmanöver einsetzen. Frisch zubereiteten Brokkoli hingegen, ihr absolutes Lieblingsessen, aß sie noch, wenn er auf den Boden gefallen war.
Wenn Tove und ich in der Küche fertig geschuftet haben und das Essen auftragen, nimmt die Kleine einen Bissen, schmatzt und schmeckt, schmeckt und schmatzt, schluckt endlich, wartet einen Moment und gibt dann ihr Urteil ab: Sie nickt begeistert („ jätte gott!“) oder schüttelt den Kopf („ inte gott“ ).
Wenn sie es mag, fragt sie interessiert, was im Essen sei. Wenn es ihr nicht schmeckt, wiederholt sie während der Mahlzeit, wie grässlich der Fraß sei. Das sind die Momente, wo ich nahe daran bin, die UN-Kinderrechtskonventionen zu vergessen und dieser frechen kleinen Schwedin den Mund mit Basilikum zu versiegeln.
In einem Land, auf dessen Straßenschilder galoppierende Elche gemalt sind, muss man mit allem rechnen, das wusste ich. Ein Volk, das halbjährlich zu viel Dunkelheit oder Helligkeit ausgesetzt ist, muss Schäden davontragen. Ich bin mit offenen Augen in mein Unglück gestolpert.
Manchmal kommt es mir vor, als würde ich in Schweden nichts anderes tun, als am Esstisch zu sitzen und einem Kind beim Nichtessen zuzuschauen. Ich habe mir sagen lassen, dass Schweden schöne Seen besitze, tolle Wälder und hübsche rote Häuser. Stockholm müsse man unbedingt besuchen samt ABBA-Museum. Ich dagegen kenne nur schwedische Kinderteller mit schwedischem Essen und einer kleinen Schwedin, die schnell und viel Schwedisch spricht. Ich habe Tove vorgeschlagen, das Kind nur mit Grünzeug, Kräutern, Pfannkuchen, Blutpudding und Süßigkeiten zu ernähren. Dann hätte ich endlich Zeit, die schönen Seiten von Schweden kennenzulernen. Tove fand meine Idee daneben. Sie ist halt auch nur eine Schwedin.
Wenn ich in die Schweiz zurückkehre, bin ich trotzdem sehr traurig. Zu Hause empfängt mich meine Katze mit der üblichen Ignoranz. Ich gebe ihr Futter und blicke liebevoll auf sie herab. Das Vieh umkreist den Napf, schnuppert daran und huscht ins Wohnzimmer. Später kommt sie zurück und knabbert gleichgültig an einem kleinen Happen und spielt mit einem heruntergefallenen Zahnstocher.
Ich schnauze: „ Ät nu !!“, aber das beeindruckt sie nicht die Bohne.
Muss ich erwähnen, dass Lya und meine Katze sich bestens verstehen?
Die kleine Schwedin kommt in die Schweiz
Letzten Sommer besuchte mich die kleine Schwedin zum zweiten Mal in der Schweiz, zusammen mit ihrer Mutter Tove. Ich hätte mich gerne auf die beiden gefreut, wenn ich dazu gekommen wäre, aber als kinderloses Wesen gab es viel vorzubereiten – ich kenne mich besser aus im Bedienen eines Kugelschreibers als in der Handhabung kleiner Kinder. Ich wollte, dass der Aufenthalt sollte für sie un-ver-gess-lich würde. Ich meine im erfreulichen Sinn.
Ich kramte in meinen Kindheitserinnerungen – was machte mir damals Freude? Mir kam spontan nichts in den Sinn außer einer riesigen Tüte Bonbons. Oder doch – viel Eiscreme, Lutscher und Wasser zum Baden.
Einen Trumpf hielt ich in der Hand: Meine Katze – Lya hatte sich in Mützlis Foto verliebt, eine Liebe, die sich beim ersten Treffen auf schwedischer Seite ins Unermessliche steigerte.
Tagelang bereitete ich Mützli auf den bevorstehenden Kinderbesuch vor: hüpfte juchzend und jauchzend auf sie zu und drückte sie fest an mich. Versuchte ihr Hut und Sonnenbrille aufzusetzen, rannte schreiend hinter ihr her und zog sie am Schwanz.
Mützli packte die Koffer.
Ich inspizierte die Kinderspielplätze in der Umgebung und trug die interessanten in eine Karte ein. Um sicherzugehen, dass die Geräte in einem akzeptablen Zustand waren, testete ich sie: Neben einer Schaukel musste ich mich übergeben (wie habe ich die Schaukelei als Kind ertragen?!) – zu diesem Spielplatz würden wir nicht gehen (nicht sauber). Bei einem Klettergerät verhedderte ich mich in den Seilen, meine Rettung bestand darin, hinunterzufallen. Aber das war kein Zeichen meines fortgeschrittenen Alters: Ich verhedderte mich schon früher im Sportunterricht.
Ich stellte eine Liste passabler Bademöglichkeiten zusammen: Wenn wir es diszipliniert angingen, würden wir die ganze Liste abplanschen können. Erster Tag: Springbrunnen auf dem Bundesplatz, danach Rutschbahn im Stadtbad plus Besichtigung des Wellenbads, am Abend Bootsfahrt auf der Aare von der Tiefenau bis zum Restaurant Zehendermätteli; dort würde sich Lya in einem großen Sandkasten vergnügen können.
Zweiter Tag: Training mit Schwimmweste in der Aare, dann lockeres Baden im Wylerbad, gegen Abend Besuch zweier Spielplätze in meinem Viertel.
Dritter Tag: Schifffahrt auf dem Bielersee, Baden im Neuenburgersee, Abendessen am Murtensee.
Am vierten Tag musste es regnen, damit ich mit ihnen ins Verkehrsmuseum in Luzern gehen konnte: Da Tove und Lya schokoladebesessen sind, würden sie die neue Schokoladeausstellung lieben. Am Nachmittag würde das Wetter wieder schön, damit wir auf dem Vierwaldstättersee ein Tretboot mieten konnten.
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