Die angegriffene Gesundheit und die Sehnsucht, einige von den Männern aufzusuchen, deren Werke ihn so stark ergriffen hatten, Coleridge, Landor [Walter Savage Landor, 1775-1864, ein englischer, politisch liberaler Schriftsteller klassischer Epigramme, Aphorismen, Gedichte und Dramen in geschliffener Prosa], Wordsworth [William Wordsworth, 1770-1850, ein britischer Dichter und führendes Mitglied der englischen Romantikbewegung zusammen mit Coleridge] und vor allem Carlyle, trieben [lockten vielmehr] Emerson auf Reisen [zu ihnen]. Am Weihnachtstag 1832 segelte er von Boston aus nach Malta. Über Sizilien, Neapel, Rom, Florenz und Frankreich kam er nach England. Und zwischen den einsamen Hügeln und Mooren von Nithsdale vergraben, fand Emerson [1833] den weltflüchtigen Carlyle. Was aus ihrer Freundschaft wurde, zeigt der durch 37 Jahre geführte Briefwechsel.
In London und Edinburgh predigte Emerson. Er empfand die geistige Überlegenheit Europas, er fühlte aber auch die größere Entwicklungsfähigkeit der Neuen Welt in religiöser Hinsicht. Und so kehrte er nach Hause zurück mit der Erkenntnis, der Alten Welt die Antwort schuldig zu sein auf die Frage: wie muss die Religion sein, deren die Menschheit harrt und für die die Zeit reif ist. „Ich bin sehr froh,“ heißt es in seinem Tagebuch, „dass meine Reise zu Ende ist. Wenn man auch noch nicht alt ist, so fühlt man sich dennoch zu alt zum Herumvagabundieren. Die Leute, die mitten in ihrer Arbeit stehen und deren Berufstätigkeit ich mit meinen Empfehlungsschreiben unterbreche, scheinen mich mit vorwurfsvollem Blick zu fragen, warum ich meine Arbeit verlassen habe, um die ihre zu stören.“ [Emerson war also, sehr anders als N, von seinem Wesen her sehr bescheiden, auch wenn er großartige Dinge beschrieb, - sie waren nie auf ihn selbst bezogen.]
Fast hätten die Unitarier von New Bedford [Anhänger einer christlich protestantischen Gruppe, welche die Lehre der Trinität, der Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist, ablehnten und die Einheit Gottes betonten] Emerson zu ihrem Prediger bestellt. Aber er sah seine Aufgabe klar vor sich: in der Natur und an der Natur stark zu werden und allen Menschen die Verkündigung zu bringen, die frei ist von den erstarrten Traditionen der Kirche. Um jene Zeit werden in den meisten Städten Amerikas Lyzeen [höhere Lehranstalten für Mädchen] gegründet, an denen sich für Emerson die Gelegenheit fand, vor einem freien Publikum frei zu sprechen. „Lyzeen sind - wenn die Leute einen sagen lassen, was man denkt - so gut wie nur irgendeine Kanzel“, heißt es im Tagebuch.
Und da fügte es sich auch, dass Emerson in der Heimat seiner Ahnen ansässig wurde. Das kleine Städtchen Concord [Eintracht] - es klingt eine Symbolik des Zufalls aus dem Namen - wurde das Refugium seines Lebens. Ein einfaches, viereckiges, hölzernes Häuschen an der Straße nach Boston, auf der die Engländer 1775 [zu Beginn des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges gegen die britische Kolonialmacht, bis 1783] hatten den Rückzug antreten müssen, wurde sein eigen. Kastanien umschatteten es, tannenbestandene Hügel schlossen es in stillere Einsamkeit. Hier wurde [im Sinne von „entfaltete sich“] der Menschenlehrer und Essayist Emerson. Seine ersten Vorlesungen hatten „das Wasser“ und „die Beziehungen des Menschen zur Erde“ zum Thema. In Boston sprach er über Luther [Martin Luther, 1483-1546, ein deutscher theologischer Urheber und Lehrer der christlich-evangelischen Reformation – was N nach häuslichen Wünschen vom Format her N eigentlich werden sollte!], Milton [John Milton, 1608-1674, ein einflussreicher englischer Dichter, der umfangreichen Gedichte, „Das verlorene Paradies“ und „Das wiedergefundene Paradies“, verfasste und überdies Staatsphilosoph war], Burke [Edmund Burke, 1729-1797, ein irischer Schriftsteller, Staatsphilosoph, Politiker und brillanter Redner, Begründer des „Konservatismus“, der Bejahung und Erhaltung der bestehenden Ordnung], Michelangelo [Buonarroti, 1475-1564, ein bedeutender italienischer Bildhauer, Maler, Architekt, Dichter und bedeutendster Repräsentant der italienischen Hochrenaissance] und George Fox [1624-1691, einer der Gründerväter der Quäker, ursprünglich eine eschatologische, auf die Vollendung des Einzelnen und der gesamten Schöpfung setzende Erweckungsbewegung zum wahren christlichen Glauben]. 1835 hielt er zehn Vorlesungen über englische Literatur, 1836 zwölf über Philosophie der Geschichte, 1837 zehn über die menschliche Kultur.
Aus diesen Vorlesungen entstanden Emersons Bücher. Und wie man bei Shakespeares Dramen öfters den Schauspieler durchfühlt, so verraten auch Emersons Essays die Technik des Redners, der seine Zuhörer mit hundert Mitteln für eine Stunde fesseln will. Sein erstes Buch „Natur“ [1836, es enthält viele seiner Essays] zeigt ihn als Idealisten und Dichter mit einem Hang zur Mystik. Die geistige Bewegung, die Emerson mit seinen Schriften anregte, wird Transzendentalismus [vom deutschen Idealismus beeinflusste, philosophische und literarische Strömung in Nordamerika um 1835-1860] genannt und seine Anhänger gaben die Zeitschrift „The Dial“ [Sonnenuhr, Zifferblatt, 1840-1844, „Medium für neue Ideen und Äußerungen, die ernsthafte Denker in jeder Gesellschaft interessieren“] heraus. Zu den bekannten Namen gehören Margaret Fuller [1810-1850, eine US-amerikanische Journalistin, Kritikerin und Aktivistin für Frauenrechte. Sie starb jung mit ihrem Mann und ihrem Sohn bei einem Schiffsuntergang vor New York], William E. Channing [1780-1842, ein US-amerikanischer Prediger und Theologe, bekannt als „Apostel des Unitarismus, ein Gegner der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes] und Henry Thoreau [1817-1862, ein US-amerikanischer Schriftsteller, Philosoph und Freund von Ralph Waldo Emerson].
Emerson selbst definiert den Transzendentalismus einfach als Idealismus [eine Weltsicht, die das eigentlich Wirkliche in den „Ideen“ erkennt; was „gesehen“ wird, wären nur Abbilder davon], als Idealismus von 1842. Die Grundlage für Emersons Philosophie, die um ihrer poetischen Konzeption und ihrer Systemlosigkeit manchmal zu Nietzsche in Parallele gestellt wird, ist der Platonismus [Übernahme der Platonischen Philosophie, besonders der Ideenlehre von den „Urbildern der Dinge“ in andere philosophische Systeme]. Einen Überblick seiner Lehren gibt die folgende Auswahl [von Essays der Ausgabe von 1915, zu der diese Einleitung gehört].
1835 heiratete Emerson noch ein zweites Mal. Die Zurückgezogenheit von Concord unterbrachen nur wenige Reisen. Emersons Schriften wurden schon zu seinen Lebzeiten internationales Gemeingut . In seinen letzten Jahren befiel ihn eine große Gedächtnisschwäche und die einfachsten Dinge konnte er nicht beim Namen nennen. Schließlich erschöpfte eine starke Erkältung seine alternden Kräfte. Als er im Fieber lag, fielen sein Blicke auf Carlyles Porträt: „Der gute Mann - mein Freund“ konnte er nur sagen. Am 27. April 1882 starb er [79-jährig] als Heiliger von Concord wie Tolstoi als Heiliger von Jasnaja Poljana starb. Und das einfache Dorf Concord ist zum Delphi [die Stadt des Orakels im alten Griechenland, damals Mittelpunkt der Welt sowie der Kult und Weissagungsstätte für verbindliche Entscheidungen, analog zu heutigen, entmythifizierten höchstinstanzlichen Gerichten] von Neu-England geworden.
Wenn N diese Einleitung auch unbekannt gebelieben ist, so wird er doch - wenn es ihn überhaupt interessiert haben sollte! - das ein oder andere von dem hier genannten im Lauf der Jahre in Erfahrung gebracht haben. Was dem 17-jährigen N mit Emersons „Essays“ und später zwei drei anderen Büchern von ihm in die Hände gekommen war - weitere haben ihm kaum gefallen, weil es darin nichts gab, mit dem er sich und seine Sehnsucht nach Größe hätte identifizieren können - wäre - besonders unter den Interpretationen, die N all dem angedeihen ließ! - in der Umgebung der kleingläubigen familien-pastorlich gepflegten Gedankenläufe im Naumburger Haus Am Weingarten 18, wenn man davon erfahren hätte, wohl nicht nur schief angesehen worden, sondern auf dem „Index“ der geltenden Moralvorstellungen gelandet.
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