Menschen, die man mit McDonald’s großzieht, wissen gutes Essen, von Könnern aus hochwertigen Zutaten bereitet, nicht zu schätzen. Es wird dann als »gewöhnungsbedürftig« oder »nicht so mein Fall« abgekanzelt. Oder, wie hier in einer Rezension von Lovin-books.de zu Tamara Bachs (meiner Meinung nach erfrischend gut geschriebenem) Roman »Mausmeer«:
»…
Abgehackte, kurze Sätze aneinander gereiht. Kaum Erklärungen. Es wirkt alles wie steif, hektisch und es kamen für mich keine Gefühle auf. [Und im nächsten Satz dann das Thema dieses Kapitels …] Die Charaktere waren für mich dadurch so weit entfernt wie noch nie zuvor in einem Buch.
…«
Eine Meinung, die der große Teil der Rezensenten teilt.
Das heißt für Sie: Überlegen Sie, was Ihnen wichtig ist. Was ist für Sie ein gut(geschrieben)er Roman?Was ist für Sie Erfolg? Wer sind Ihre Leser und was gefällt ihnen, auch sprachlich? Wollen Sie Leser erreichen, die einen anderen Geschmack haben als Sie, oder auf Ihrer Vorstellung von einem guten Text beharren? Wo sind Sie bereit, Kompromisse einzugehen, und wo nicht? Fragen, die Sie sich sowieso immer mal wieder stellen sollten.
Und weil es sein muss, lasse ich noch eine andere Rezensentin, Damaris, zu Wort kommen:
»…
Tamara Bachs wunderbarer Stil ist genau meiner, ihr Buch für mich so besonders, dass es zu meinen literarischen Schätzen zählt. Es ist ruhig, es ist sehr dicht und es ist unmissverständlich bildgewaltig.
…«
Diese Rezension ist, übrigens, besser geschrieben als die andere …
Allen können Sie es nicht recht machen. Das Schielen nach dem Markt schadet fast immer sowohl dem Roman als auch, ironischerweise, seinem Verkaufserfolg.
Mein persönlicher Tipp
Schreiben Sie in erster Linie für sich und für Ihren idealen Leser, Ihre perfekte Leserin. Alles andere verursacht nur Magengeschwüre. Und zu diesen sollten Sie in jedem Fall auf größtmögliche Distanz gehen.
Das Erzeugen von Nähe oder Distanz ist das eine. Doch wie kommen Sie von der Distanz zur Nähe? Wie gelingt der Übergang?
Vorab: Leser vertragen hier eine Menge. An scharfe Schnitte sind sie ebenso gewöhnt wie an sanftere Überleitungen durch ein Ein- oder Auszoomen.
Am einfachsten aber machen Sie es ihnen, wenn Sie die Distanz langsam verkleinern. Wie das aussehen könnte, haben wir oben gesehen.
Sanft und dennoch schnell kann das beispielsweise so geschehen:
Die Stadt lag schlafend, Mondlicht funkelte in den Pfützen der letzten nassen Wochen. Es schien, dass von allen hunderttausend Menschen allein Petra nicht schlafen konnte. Sie saß am Rand ihres Betts und starrte den Kamm an, in dem noch Peters Haare steckten. Peter. Wohin war er verschwunden? Er würde nicht einfach losziehen und sie verlassen, nicht er, niemals.
Wir haben im ersten Satz eine große Distanz zur Hauptfigur Petra. Schon im zweiten Satz wird die Distanz überbrückt und im dritten ist Nähe hergestellt. Diese Nähe intensiviert sich in den folgenden Sätzen, indem der Erzähler in Petra hineinzoomt und ihre Gedanken schildert.
Dass die Leser vom Überblick weg- und im Charakter angekommen sind, belegen Sie mit möglichst konkreten und körperlichen Wahrnehmungen: Sie zeigen ihnen, dass sie physisch, ganz handfest in der Person drin sind, und erden sie in der Realität Ihrer Story. Dann könnte die Szene so erzählt sein:
Die Stadt lag schlafend, Mondlicht funkelte in den Pfützen der letzten nassen Wochen. Es schien, dass von allen hunderttausend Menschen allein Petra nicht schlafen konnte. Sie saß am Rand ihres Betts, die Satinwäsche unter ihren Beinen feucht und kühl, und starrte den Kamm an, in dem noch Peters Haare steckten. Peter. Sie zupfte ein Haar heraus und fuhr sich damit über die Wange, spürte ein fernes Kitzeln, so fern wie er. Wohin war er verschwunden? Er würde nicht einfach losziehen und sie verlassen, nicht er, niemals.
Auch mit Emotionen erden Sie die Leser in Ihren Figuren – nicht von ungefähr am einfachsten, wenn Sie die Emotionen über körperliche Empfindungenschildern.
Die Stadt lag schlafend, Mondlicht funkelte in den Pfützen der letzten nassen Wochen. Es schien, dass von allen hunderttausend Menschen allein Petra nicht schlafen konnte. Sie saß am Rand ihres Betts, die Satinwäsche unter ihren Beinen feucht und kühl, und starrte den Kamm an, in dem noch Peters Haare steckten. Peter. Sie zupfte ein Haar heraus und fuhr sich damit über die Wange, spürte ein fernes Kitzeln, so fern wie er. Ihre Brust wurde ihr eng, als würde jeder Kilometer zwischen Peter und ihr, jede Stunde ohne ihn darauf lasten. Wohin war er verschwunden? Er würde nicht einfach losziehen und sie verlassen, nicht er, niemals.
Wie könnte das umgekehrt gehen, wie kommen Sie von der geerdeten Nähe zu einer abstrakteren Distanz? Dieser Weg ist für die Leser sehr viel leichter, da sie sich nicht erst in einer Person und ihren Sinnesempfindungen, ihren Gedanken und Gefühlen einfinden müssen. Daher können Sie schneller zoomen und, mit einem Absatz, die Änderung in der Distanz den Lesern schon anhand des Layouts zeigen.
Die Stadt lag schlafend, Mondlicht funkelte in den Pfützen der letzten nassen Wochen. Es schien, dass von allen hunderttausend Menschen allein Petra nicht schlafen konnte. Sie saß am Rand ihres Betts, die Satinwäsche unter ihren Beinen feucht und kühl, und starrte den Kamm an, in dem noch Peters Haare steckten. Peter. Sie zupfte ein Haar heraus und fuhr sich damit über die Wange, spürte ein fernes Kitzeln, so fern wie er. Ihre Brust wurde ihr eng, als würde jeder Kilometer zwischen Peter und ihr, jede Stunde ohne ihn darauf lasten. Wohin war er verschwunden? Er würde nicht einfach losziehen und sie verlassen, nicht er, niemals.
Ihr Blick ging zum Fenster und hinauf zum halbvollen, nicht zum halbleeren, Mond. Auch der Erdtrabant verrät die Optimisten oder Miesepeter. Ein halbvoller Mond verhieß Peters Rückkehr. Die Stadt drehte sich noch einmal auf die andere Seite, ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang, zu einem ganz vollen Morgen.
Auch beim Wechsel der Distanz sind Ihrem Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt. Es gibt viele Wege, Ihre Leser zu führen. So könnte es beispielsweise an einer Stelle in Ihrer Story effektiv sein, einen jähen Übergang zu wählen.
Achtung!
Distanzänderungen sind potenzielle Bruchstellen in Ihrem Roman und erfordern Ihre Aufmerksamkeit. Insbesondere bei der Überarbeitung.
Nähe und Distanz geschickt variierenkönnen Sie, indem Sie im selben Erzählstrang auktoriale und personale Erzählweise einsetzen, ohne dass sie einander oder die Leser stören: etwa beim Hereinzoomen am Anfang einer Szene oder beim Kommentieren oder Vorausdeuten an deren Ende.
Damit das funktioniert, sollte Ihr auktorialer Erzähler weitgehend unsichtbar bleiben, sich also Haltungen und Kommentare verkneifen. Die Perspektivwechsel sollten unmerklich geschehen, wie im ersten Petra-Beispiel oben.
Dort zoomt der Autor mittels eines auktorialen POV in die Szene hinein. Der Erzähler wird nur dadurch sichtbar, dass er beschreibt, was kein Charakter des Romans wahrnehmen könnte. Dann wechselt die Perspektive nahtlos zu Petras naher personaler Sicht.
Ähnlich im folgenden Beispiel, wo der Autor seinen Erzähler etwas hinterherschieben lässt, was Suspense erzeugt und die Leser gespannt umblättern lässt:
Petra starrte auf ihren blutverschmierten Finger. Wie kam das Blut unter den Rand des Waschbeckens? Sie hockte sich hin und fand rote Streifen unter dem Becken. Jemand hatte Blut ins Becken getropft, viel Blut, aber nicht alles abgewischt. Peters Blut? Sie versuchte, eine rationale Erklärung zu finden, eine, bei der Peter nichts passiert war, eine, bei deren Erinnerung sie in ein paar Tagen schon gemeinsam lachen würden.
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