Sie saßen am Küchentisch, sahen beide sehr ernst aus, Sabine hatte Michas Hände in ihre genommen. Ich war neugierig und nutzte die Chance ihr Gespräch zu belauschen, indem ich in der Tür stehen blieb, so dass sie mich nicht sehen konnten.
„….Mama ich liebe sie, ich will sie heiraten. Ich möchte Kinder mit ihr.“
„Micha, bitte, komm auf den Boden der Tatsachen, sie ist noch so blutjung, sie ist noch nicht einmal mit der Schule fertig. Natürlich glaubt sie dich zu lieben, aber irgendwann ist es vorbei. Sie ist fast acht Jahre jünger als du. In ihrem Alter bedeutet das noch Welten. Es ist schön, sich von seinen Gefühlen treibenzulassen, aber bitte schalte deinen Verstand ein. Du bist der Erwachsene von euch beiden, du trägst die Verantwortung. Du bist der erste wirkliche Mann in ihrem Leben, sie bewundert dich jetzt.
Sie ist hochintelligent und eine der besten Schülerinnen. Sie hat eine großartige Zukunft vor sich, die kannst du ihr nicht verbauen. In fünf Jahren sieht die Sache anders aus. Kinder in die Welt zu setzten bedarf eines großen Verantwortungsgefühl. Denke daran was Tom passiert ist. Kinder sollten keine Kinder bekommen, ich weiß wovon ich spreche. Als du auf die Welt kamst war ich siebzehn, so alt wie sie jetzt.
Ich will nicht, dass ihr eines Tages aufwacht und feststellt das ihr einen großen Fehler gemacht habt. Dass ihr euch gegenseitig hasst. Ich habe in meinem Leben genügend Hass erlebt und ich möchte nicht, dass du leidest.“
Sie redete auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd.
„Mama wie du schon festgestellt hast, sie liebt mich und ich sie auch, sie ist der erste Mensch, bei dem ich mich wirklich zu Hause fühle. Es stimmt einfach alles. Die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Wir haben ein halbes Jahr gewartet bis wir miteinander geschlafen haben...“
Ich machte mir Gedanken, ob Sabine mich wirklich gehasst hatte oder ob sie einfach ein Stück mehr besorgt war als alle Anderen. Sie ist eine tolle Frau, heute kann ich nachvollziehen, was sie damals sagen wollte.
Meine Mutter redete immer noch, redete wie ein Wasserfall. Selten war das, was sie erzählte, von Klarsicht kontrolliert. Es war nichts Neues. Ich hatte einen dicken Klos im Hals. Mein Vater saß ruhig dabei, geistesabwesend, er dachte sich seinen Teil, sagte aber nichts, hatte er ihr auch nicht zugehört?
Hat er sich über die Jahre dieselbe Taktik zugelegt um ihrem nicht enden wollenden Redefluss zu entkommen?
Ich hätte mir so sehr Verständnis gewünscht! Gewünscht, das er sich auf meine Seite schlägt, das er Mama sagt, sie solle den Mund halten. Ich vermisste die Nähe die wir früher zueinander hatten. Wäre gerne mit ihm in die Werkstatt oder in den Wald gegangen. Wäre gerne mit ihm allein gewesen. Unsere Beziehung war inzwischen fürchterlich kompliziert. Wir konnten nicht mehr unbefangen miteinander reden.
Sie war enttäuscht, weil ich schon so früh wieder ging. Ich lehnte höflich den Kuchen ab den sie mir einpacken wollte. Begriff sie nicht was sie da von sich gegeben hatte? War ihr überhaupt bewusst, wie sehr sie mich verletzte? Erwartete sie das ich sie tröstete? Ich verstand ihre Welt nicht. Der Graben war dadurch nur noch ein Stückchen mehr gewachsen.
Auf der Fahrt zum Krankenhaus, verfolgten mich die Szenen des Tages. Mutter, der Heiratsantrag, Sabines Bedenken.
Heute Morgen hatte ich mein Kleid ausgepackt, aber nicht angezogen, den zarten Stoff befühlt und es dann in den Karton zurückgelegt.
Ich dachte an unsere glücklichen Tage. An den Hut von Oma Helene. Erneut an den Tag als Michael mich gefragt hatte ob ich ihn heiraten möchte. Es überkam mich eine tiefe Traurigkeit, ich fragte mich mal wieder: Warum? Die Verzweiflung umklammerte mich wie ein eisernes Korsett.
Die Wochen vergingen, außer ein paar schwer interpretierbaren Lauten konnte Micha nichts von sich geben. Es gab so Vieles, über das wir reden mussten und es ging nicht. Ich vermisste unsere Gespräche. Fühlte mich schrecklich alleingelassen und einsam.
Michael wirkte inzwischen so, als würde er alles was um ihn herum vorging erfassen. Sein Verstand schien wieder voll zuarbeiten, darin lag eine ungeahnte Grausamkeit des Schicksals. Er war in sich gefangen. Erst wenn einem ein Gut wie die Sprache genommen wird, wird einem so richtig bewusst, wie wertvoll es ist. Unsere Kommunikationsform war einseitig, ich redete und Micha sah mich an.
Es brachte mich fast um mitzuerleben, wie der Mensch, den ich am meisten liebte, durch einen Unfall ins Kleinkindalter zurückgeworfen wurde. Seine Verzweiflung war so offensichtlich, dass man sie greifen konnte. Er konnte das, was in ihm vorging nicht artikulieren. Er litt, seelisch und körperlich. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr, wurde körperlos und dahin schwimmend, seitwärts gleitend, ohne Anfang und ohne Ende. Seine Augen spiegelten die immer gleiche Frage, wozu lebe ich noch, obwohl ich doch besser tot wäre. Er hatte trotz der starken Schmerzmittel Schmerzen und Fieber. Wegen des Beckenbruchs konnte er sich noch immer kaum bewegen. Der heilte nur sehr langsam. Er war hilflos. Mir hallten, ungewollt, die Worte meiner Mutter im Gedächtnis „Mädel du bist noch so jung, und der Kerl kann nicht mehr sprechen und nicht laufen, wird es wahrscheinlich nie wieder können, wird ein Pflegefall bleiben, du verbaust dir dein ganzes Leben“.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich schob den Gedanken ganz schnell beiseite. Schluckte ein paar Mal heftig, wischte mir über die Augen, kämpfte um meine Fassung. Bleierne Angst und Traurigkeit waren meine ständigen Begleiter, sie überlagerten alle anderen Gefühle, zeitweise war mir ganz übel davon. Wenn ich ihn ansah, keimten auch in mir Zweifel auf. Zweifel, ob wir mit der neuen Situation auf Dauer zurechtkämen.
Groteskerweise half es mir in seiner Nähe zu sein, denn dann war ich mir zumindest sicher, dass er lebt.
Ich erzählte ihm von meinem Tag. Die positiven Dinge, nichts von meinen eigenen Ängsten, war fröhlich, versuchte ihn zum Lachen zu bringen. Ich las aus den Büchern vor, die er liebte. Jeden Tag aus den gesammelten Werken von Lord Byron. Seine poetischen Texte waren im Lauf unserer Beziehung zu einem Teil von ihr geworden. Sie stammten aus seinen Briefen und Tagebüchern, wir hatten oft stundenlang darüber gesprochen, was wohl in einem tieferen Sinne gemeint war. Diese Gespräche gehörten nur uns. Es hatte sich zu einem Spiel zwischen uns entwickelt. Er lächelte, vielleicht auch weil die Erinnerung einen kurzen Moment die brutale Wirklichkeit überlagerte.
Den Ulysses fand ich immer sehr langatmig, Micha mochte ihn und es ist ein dickes Buch. Es beschreibt einen einzigen Tag in Dublin, im Leben von Leopold und Molly Blum, sowie Stephen Dadelus. So ähnlich wie Homers Odysseus, nur modern. Den 16. Juni 1904. In achtzehn Episoden werden minutiös alle Geschehnisse, Gefühle, Gedanken der Protogonisten erzählt. Am Ende hat man das Gefühl Leopold Blum besser zu kennen als sich selbst. Das Zitat von James Joyce „Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, alles verläuft in einer ewigen Gegenwart.“ Erschien mir in unserer jetzigen Situation außerordentlich passend. Henry Millers, ‚Im Wendekreis des Krebses’ war ein anderes Buch das wir beide sehr mochten. Es besticht durch seine außergewöhnliche Vielfalt der Sprache. Ein Buch, das einen in seinen Bann zieht mit Millers ganz eigenem Stil von aufeinander folgenden Tagebucheinträgen. Er beschreibt stark überzeichnet dargestellte Alltagssituationen. Seine allgemeinen philosophischen Überlegungen über das Leben machen das Ganze amüsant und leicht lesbar.
Micha mochte es, wenn ich ihm vorlas, es zerteilte seinen Tag, nahm ein Kleinwenig von der Einförmigkeit, dem immer selben Ablauf, dem immer selben Blick an die Zimmerdecke, den wiederkehrenden Ritualen und den langen einsamen Stunden, gefangen in der Bewegungslosigkeit und Einsamkeit. Wir sprachen mit Blicken miteinander. Damit hielten wir den Funken Hoffnung am Leben, dass wieder bessere Zeiten kommen würden.
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