Drei Tage stand die Keksdose jetzt oben auf dem Bücherschrank. Ich habe gehofft, ich vergesse sie, denkt Maricella. Aber wenn mir das jemals ganz gelungen wäre, dann wäre mein Leben wohl anders verlaufen. Sie zittert. Ich habe keine Wahl, denkt sie. Ich muss das Ding öffnen. Aber was, wenn sie leer ist? Was, wenn der Inhalt fehlt? Wäre das nicht ein Segen? Vielleicht war der Inhalt zu dem richtigen Menschen geflattert und hatte etwas bewirkt in dieser gottverdammten Zeit, in dieser Zeit der Schleimscheißer und Unter- den- Teppich- Kehrer. Sie schüttelt den Kopf. Als sie die Dose getragen hatte, war kein Geräusch zu hören, dass auf einen Inhalt hätte hinweisen können. Um sich abzulenken, setzt Maricella sich an ihren alten Computer und geht in das Internet. Sie lächelt. Ihr Profil macht den Eindruck, sie sei jung. Vielleicht Mitte zwanzig. Sie hat es mit ihrem vollen Namen versehen, Maricella Semsrott. Trotzdem ist es ein jüngerer Mensch, der sich virtuell in Diskussionen über die Rechte von Kindern und härtere Strafen für Tierquäler einmischt. Sie lächelt. Oh, eine neue Freundschaftsanfrage… Sie steht auf und setzt Wasser zum Kochen auf. Ein Tee.. eine Tasse Tee … energisch zieht sie den Teebeutel aus dem Papier und wirft ihn in die Tasse. Sie greift zur Zuckerdose. Fünf Mal taucht sie den Teelöffel in das leicht glitzernde Weiß und leert ihn in der Tasse. Der Teebeutel liegt nun begraben unter einer weißen körnigen Schicht. Maricella atmet tief durch. Das Herz schlägt viel zu schnell. Das Wasser kocht. Sie schüttet es in die Tasse, bis die bis zum Rand voll ist… grünlich mit einem Faden, an dem ein Papierfähnchen hängt.. und an der anderen Seite schwimmt ein nasser Teebeutel. Maricella denkt an einen Fötus. Tränen steigen in ihre Augen. Sie schluckt und wischt sich mit der Handfläche über die Augen. Entschlossen blick sie aus dem Fenster, entschlossen zu nichts. Draußen beginnt es zu Grünen. Ein Schwellen und Platzen, ein Knospen und Wachsen… Sie zieht etwas Flüssiges in ihrer Nase hoch, schluckt, wischt sich einen Tropfen an ihrer Nasenspitze mit der Hand weg… Mit der Tasse in der Hand kehrt sie zu ihrem Schreibtisch zurück, auf dem der Computer steht. Sie setzt die Tasse neben der Tastatur ab und ihr dicker Hintern plumpst in den Stuhl. Freundschaftsanfrage… Timothy M. Graue Haare, sehr gepflegt. Ein Kind neben ihm. Zierlich, vielleicht zehn Jahre alt. Ein Mädchen mit Zahnspange, lächelnd, lange wellige, kastanienbraune Haare. Unfallchirurg. Aus Illinois, Usa. Wohnhaft in Kiel, Deutschland. Ein Blumenstrauß aus rosa Rosen als Profilbild. Sie wird eine Nacht darüber schlafen. Am nächsten Morgen bestätigt sie die Freundschaftsanfrage.
Es wurde leichter und leichter. Eine glitzernde Zersetzung in die Unendlichkeit. Nur die Sehnsucht schmerzte, schmerzte gleichmäßig überall, an jeder Stelle, vielleicht auch im Überall. Aber wahrscheinlicher nur hier, nur hier, wo alles glitzernd sich zersplitternd ohne Begriffe oder Zuordnungen, ohne einen einzigen Laut oder Empfindungen passierte. Vielleicht war das Silber nur ein ganz helles Weiß und das Rosa nur der Rest von Körperlichkeit. Aber ganz sicher war da noch mehr. Denn dort war keine Einsamkeit und obwohl es kein Ort war, war es doch woanders, so weit, weiter als alles andere. Und eine goldene Wärme erkannte mich und ich zersetzte mich zu ihr hin. Es muss ein goldenes Lächeln gewesen sein oder eine Temperatur, die genauso war, wie in dem Leib einer Mutter, in der nährenden Höhle vor der Geburt. Ich merkte wie ich mich immer heller zersetzte und ganz leise streifte mich eine in hellem Gold erstrahlende Frage. „Kannst du noch einmal etwas aushalten, damit Dinge geschehen, damit schlechte Gefühle sich zeigen, um verarbeitet zu werden und irgendwann sich in Gutes verwandeln…? Ich blitzte kurz auf, ein Blitz, der überall zu sehen war und die Worte in mit ließen ein Donnern folgen oder es war der Rest meines Herzens… Und etwas Rotes zerplatzte… Es wurde rosa und Gold um mich herum und je weniger weiß alles war, umso heller wurde das Rot. Ich hörte mein Stöhnen und ich muss noch fähig gewesen sein, meinen Körper ganz krankhaft zu verbiegen… Die Stimme war jetzt wie eine Wolke, nur weiß, vielleicht ganz leicht hellblau und weich wie Watte, aber auch ein wenig schwer und gleichzeitig war sie leicht. „Wir können nicht anders… es ist noch zu viel Schlechtes da… leider… es müssen schlechte Dinge mit Dir passieren, auch wenn du an nichts schuld bist und wenn du nur Gutes, Reines , Klares, Mitfühlendes, Liebendes in Dir hast… wir brauchen noch immer welche, die da unten Schlechtes abbekommen, weil es so viel Schlechtes gibt und weil es besser ist, wenn dadurch nicht noch mehr Schlechtes passiert…“ Es war etwas Flehendes, Bittendes da, das das restliche Rot wegwischte und ich dachte an einen salzigen Tropfen und dann rollten riesige Steine um mich herum und streiften mich mit ihrer rauen Oberfläche aber ich wurde nicht von ihnen erfasst, sie schienen mir immer ganz knapp auszuweichen… Jetzt schmeckte ich Salz und spürte einen Hals, meinen Hals, der sich doch längst zersetzt haben musste…. Ich dachte, ob ich wohl eine Wahl hätte und die weiße Stimme sagte ja, aber das es nur eine Verschiebung wäre. Ich stürzte, ich weiß nicht wohin, ob nach oben oder nach unten und ich blitzte einige Male auf und donnerte gegen Steine… Die goldene Stimme wärmte mich und sagte, dass meine Seele sehr alt wäre. Da musste ich lächeln und ihr zustimmen. Wünsch Dir was, sagte die Stimme durch das weiche Weiß. Das frustrierte mich, denn ich hatte keinerlei Orientierung. Frei, sagte ich, frei. Brauchst Du etwas, um Schlechtes zu überstehen, sagte die weiße weiche Stimme. Ein bisschen Schönheit, dachte ich, ein kleines bisschen Schönheit, Schönheit, die man nicht sofort sehen muss… vielleicht nur ein ganz leiser, zärtlicher Hinweis auf Schönheit…. Maricella, sagte die weiße, weiche Stimme ganz schwer und ganz leicht zu mir. Was für ein schöner Name, dachte ich. Es gab einen Stoß, es gab ein emsiges Schwimmen und Schwirren, es gab ein rundes Empfangen, ein Leuchten und den Beginn der Entwicklung eines neuen Lebens.
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