Dieses Dilemma, mit dem sich die EZ auseinandersetzen muss, wirft die Frage auf, welchen Einfluss der Fortschritt der Digitalisierung und neue Technologien haben. Das BMZ stellt bereits 2013 (S. 13) in einem Bericht zu Schlüsseltechnologien fest, dass IKT einen „wichtigen Beitrag [leisten], um die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen.“{31}.
Gerade aufgrund der auch innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte hohen Anzahl gescheiterter Entwicklungsprojekte und -initiativen (vgl. IEG, 2011; Dodson et al, 2013; vgl. Baduza & Khene, 2015; vgl. Sanner/Nielsen, 2018) erscheint es notwendig, die Ursachenforschung voranzutreiben.
Diskussionen um die Frage der nachhaltigen Wirksamkeit und zu den möglichen Ursachen für das Scheitern von Entwicklungsmaßnahmen finden sich u. a. bei Moyo (vgl. 2011), Dedrick & Sharma (vgl. 2007), Heeks (vgl. 2012), Holtz (vgl. 2000), James (vgl. 2009), Kleine et al. (vgl. 2014), Nuscheler (vgl. 2008), Santiago et al. (vgl. 2012), Waweru (vgl. 2013), Yonazi (vgl. 2011) und Stockman (vgl. 2016). Mehrfach werden die „ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen [...], die inhärente Asymmetrie der ‚Entwicklungshilfe‘“ (Gomes et al., 2001: 2) und die Auswirkungen des „white savior complex“{32} für das Scheitern von EZ-Projekten verantwortlich gemacht. Längst wurde erkannt, dass langfristige Entwicklungsfortschritte nur erreicht werden können, wenn es gelingt, „Betroffene zu Beteiligten“ (v. Ameln, 2006: 87) zu machen und vielmehr „Hilfe zur Selbsthilfe“ (Holtz, 2000) zu leisten. Dennoch wird immer wieder von zahlreichen Entwicklungsmaßnahmen berichtet, die ihr eigentliches Ziel, Partizipation und nachhaltige Wirksamkeit, verfehlen.{33} Daneben greift Mefalopulos (2008: 8) auch den Aspekt der Kommunikation zwischen Projektverantwortlichen und Anspruchsgruppen auf, die die Qualität einer Entwicklungsmaßnahme maßgeblich beeinflussen kann: „The history of development has included failures and disappointments, many of which have been ascribed to two major intertwined factors: lack of participation and failure to use effective communication.“{34}
Es stellt sich die Frage der Berücksichtigung entscheidender Rahmenbedingungen. Nguyen (2016: 71) vermisst im Rahmen der internationalen EZ eine ausführliche Diskussion zur „kulturellen Bedingtheit von Entwicklungszielen, -vorgaben und -methoden“. Stockmann (2016: 450) konkretisiert diese Feststellung und merkt an, dass die „Kontextbedingungen der einzelnen Länder und ihre Entwicklungsniveaus ausschlaggebend dafür sein müssen, wie Entwicklung vorangetrieben und welche Konzepte eingesetzt werden“.{35} Fraglich ist, inwiefern sich die nachhaltige Wirksamkeit von Entwicklungsmaßnahmen vor dem Hintergrund neuer „Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Vernetzung“ (Gimpel, 2018: 61) verändert. In diesem Zusammenhang gilt es auch die Thesen von Wang & Bar (vgl. 2015), Reilly (vgl. 2010), Loudon & Rivett (vgl. 2011) und Smith et al. (vgl. 2011) zur „Open Development{36}“-Bewegung einzubeziehen, die den Einfluss eines offenen Umgangs mit EZ-projektspezifischem Wissen diskutieren. Grundsätzlich bedarf es eines umfassenden Wissens, um den komplexen Anforderungen entwicklungsschwacher Regionen gerecht zu werden, was auch Haas & Schwaab (2013: 243) betonen:
„Wissen ist entwicklungspolitisch zum Schlüsselbegriff geworden. Er gewinnt als Produktionsfaktor{37} neben Arbeit, Kapital und Boden stark an Bedeutung [...] Wo Wissen fehlt, so die gängige Hypothese, bleibt Entwicklung eingeschränkt.“
V. Guretzky (2001) geht noch einen Schritt weiter und merkt an, dass EZ „im wesentlichen aus Wissenstransfer“ besteht. Diese Annahme erfordert wiederum zunächst eine Auseinandersetzung mit einer Deutung des Wissensbegriffs in Organisationen, die mit der Umsetzung von Entwicklungsprojekten betraut werden. Das folgende Teilkapitel bietet hierzu einen grundlegenden Überblick über die Organisation von Entwicklungsmaßnahmen, indem sowohl die beteiligten Akteure, deren Beziehungen zueinander sowie deren Umgang mit Wissen beschrieben wird.
2.1.3 Besonderheiten von Entwicklungsprojekten aus handlungstheoretischer Sicht
Im Folgenden wird erläutert, worin sich die Zusammenarbeit im Rahmen von Entwicklungsprojekten grundsätzlich manifestiert. Die empirische Untersuchung der Bedingungen der intra- und interorganisationalen Kollaboration setzt die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses für das jeweilige Handeln der an der Zusammenarbeit beteiligten Akteure voraus. Dies legt zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Handlung nahe.
In Anlehnung an die arbeitspsychologische Handlungstheorie (vgl. u. a. Hacker, 1978) und insbesondere Volperts (vgl. 1974) Begriffsdefinition folgend, soll ein solches Handeln von Entwicklungsprojektbeteiligten als bewusstes, zielgerichtetes Verhalten verstanden werden. Um Handlungen bzw. menschliches Verhalten zu differenzieren, schlägt Rasmussen (vgl. 1983) drei Kategorien vor: Er unterscheidet zwischen fertigkeitenbasiertem Handeln („skill-based behaviour“), regelbasiertem Handeln („rule-based behaviour“) und wissensbasiertem Handeln („knowledge-based behaviour“; s. Abb. 6).
Abbildung 6: Fähigkeiten, Regeln und Wissen als Handlungsdeterminanten nach Rasmussen (1983)
(eigene Darstellung)
Akteure handeln entsprechend ihrer Fähigkeiten fertigkeitenbasiert, wenn sie unbewusst oder automatisiert Aufgaben erledigen (vgl. Rasmussen, 1983: 257). Regelbasiertes Handeln ist zu beobachten, wenn die Aktivität eines Akteurs mit einer gezielten Anweisung und/ oder Kontrolle einhergeht. Diese Handlungsweise wird durch ihre Zielorientierung charakterisiert, obwohl das jeweilige Ziel oftmals nicht explizit formuliert wird, sondern vielmehr implizit mit der regelgeprägten Situation verknüpft wird (vgl. ders., 1983: 258). Rasmussen (ebd.) gibt zu denken: „The boundary between skill-based and rule-based performance is not quite distinct.“ Es erscheint sinnvoll, sich im Folgenden vor allem auf die dritte Kategorie des wissensbasierten Handelns zu konzentrieren, das sich deutlich von den zuvor genannten Handlungsweisen abhebt. Insbesondere Situationen, die von Unbestimmtheit und Komplexität geprägt sind (vgl. ebd.; vgl. Ramnarayan/Kumar, 1996) und die sich im Kontext von Entwicklungsprojekten durchaus ereignen (vgl. Kap. 2.1.1; Kap. 2.1.2), implizieren bzw. erfordern wissensbasiertes Handeln.
Dieses Unterkapitel gliedert sich in zwei Teile: Unter 2.1.3.1 wird die handlungstheoretische Sicht um eine Betrachtung organisationskulturbezogenener Besonderheiten von Entwicklungsprojekten ergänzt. Dabei wird ein Fokus auf die Definition der an einem Entwicklungsprojekt beteiligten Akteure, deren Handlungskontexte sowie deren Beziehungsverhältnisse zueinander gelegt. Auf dieser Grundlage wird im zweiten Teil (Kap. 2.1.3.2) des Kapitels die Relevanz des wissensbasierten Handelns im Rahmen eines Entwicklungsprojekts näher ausgeführt.
2.1.3.1 Betrachtung des Handlungs- und Akteursfelds
In diesem Teilkapitel werden die Handlungs- und Akteursfelder von Entwicklungsmaßnahmen näher betrachtet. Entsprechend den Annahmen Boltens (vgl. 2017) wird mit einem Akteursfeld die Kulturzugehörigkeit eines Akteurs bezeichnet. Dies setzt zunächst eine Definition des Kulturbegriffs voraus. Entsprechend der etymologischen Herleitung Boltens (vgl. 2009) und der lateinischen Herkunft des Wortes („colere/ cultum“, dt. bebauen, pflegen; vgl. Brockhaus Enzyklopädie, 2020) wird vor allem die Übersetzung „Pflege“ als relevant angesehen. Im Folgenden wird somit dargelegt, inwiefern Beziehungen zwischen Akteuren, die in einem bestimmten Handlungskontext agieren, gepflegt werden. Dabei wird vor dem Hintergrund jüngerer Kulturbegriffsdiskussionen (vgl. Busche et al., 2018; Schmidt-Lux et al., 2016; Bolten, 2015; Hansen, 2009) eine strukturprozessuale Perspektive gewählt, welche impliziert, dass vielmehr von einer Mehrfachzugehörigkeit zu unterschiedlichen kulturellen Akteursfeldern (vgl. Bolten, 2016: 30) ausgegangen wird. Dementsprechend wird den Ansätzen Rathjes (vgl. 2004) und Schmidts (vgl. 2008) gefolgt, dass sich die Kultur einer Entwicklungsprojektorganisation aus miteinander vernetzten Akteursfeldern zusammensetzt und sich in den (Reziprozitäts{38}-)beziehungen der einzelnen beteiligten Akteure manifestiert (vgl. Bolten, 2014). Folglich wird im Rahmen dieser Arbeit nicht von einem Akteursfeld, sondern von mehreren Akteursfeldern gesprochen, in denen die an einem Entwicklungsprojekt beteiligten Akteure agieren.
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