„Wieso gewesen? Der ist doch nicht tot, nur verschwunden!“ Maria Thaler – jeder wusste, dass sie heimlich für den Kollegen schwärmte – sagte dies mit großem, leicht wässrigem Mädchenblick, den sie ungeachtet ihrer fünfundfünfzig Jahre sorgsam kultivierte.
„Sie hat gerade telefoniert, als ich kam – mit der Polizei!“ – Sich wichtigtun konnte Tobias auch. „Womöglich muss eine Vermisstenanzeige aufgegeben werden.“
„Er hat ja sonst niemanden.“ Maria Thaler schickte einen stummen Vorwurf in die Welt. „Oder?“, hakte sie unsicher nach.
Allgemeines Achselzucken. Man wusste ohnehin recht wenig voneinander in diesem Lehrerkollegium, und über die privaten Angelegenheiten des Kollegen Beck war so gut wie nichts bekannt.
„Na ja, hoffen wir, dass er wieder auftaucht“, sagte Tobias, mit den Gedanken schon wieder weiter. „Die Chefin wird ja jetzt fertig sein mit Telefonieren. Hab ja schließlich noch was anderes zu tun als hier zu warten.“ Er wandte sich zur Tür. „In zwei Wochen geht’s wieder los für mich. Bis dann!“
Man winkte und nickte ihm vage und ohne rechtes Interesse zu und er verschwand.
Daniel Skipanski stieg aus der Straßenbahn und ging langsam über die Straße. Eine lange, weiße Mauer, die einen riesigen Komplex aus zum größten Teil hässlichen Backsteingebäuden umschloss, ragte vor ihm empor; unzählige Meter Stacheldraht rollten sich oben auf dem Sims. In Abständen waren erhöhte Wachtürme angebracht. Langsam ging er weiter und blieb in Sichtweite eines großen, abweisenden Tores stehen. Er wartete. Er war zu früh.
Nach einer guten Stunde, in der er immer öfter auf die Uhr geschaut und unruhiger geworden war, näherte er sich zögernd dem Tor. In diesem Moment hielt ein dunkler BMW an der Straße und hupte kurz. Die Scheibe sank geräuschlos herunter.
„Daniel komm, steig ein!“
Skipanski drehte sich um. „Klaus, hallo! Du kommst spät!“
„Entschuldige, Daniel. Bin bei Gericht aufgehalten worden.“
Skipanski sah wieder zum Tor hin. „Egal, offensichtlich ist es nicht zu spät.“ Er hatte den Wagen erreicht und gab dem Fahrer die Hand. „Ich verstehe das nicht, eigentlich sollte er schon seit einer Stunde entlassen sein.“ Wieder warf er einen Blick auf das Gebäude hinter sich.
Klaus Breuer deutete mit dem Kopf auf den Beifahrersitz. „Nun steig schon ein, ich kann hier nicht so lange stehen bleiben. Ausgerechnet vor dem Knast will ich keinen Strafzettel bekommen.“
„Aber Ben wird uns nicht sehen, wenn er herauskommt“, gab Skipanski zu bedenken, ging aber auf die andere Seite und stieg ein.
„Ben kommt heute nicht.“ Breuer schielte zu ihm hinüber. „Er ist schon am Mittwoch entlassen worden.“ Langsam wendete er und hielt auf die B3 zu, die ihn zum Alleenring bringen sollte.
„Wie bitte? Schon vorgestern?“ Ruckartig setzte sich Skipanski auf. „Nein, du irrst dich. Er hat mir ausdrücklich gesagt, am Freitag.“
„Ich war hier, als er entlassen wurde; dann ist er mit der Straßenbahn weggefahren.“ Der Anwalt schien sich höllisch auf den Verkehr konzentrieren zu müssen.
„Du warst ...“ Sprachlos starrte Daniel ihn an. „Warum hat er mir dann gesagt, dass er heute …?“
Breuer zuckte die Schulter. „Wenn er will, wird er es dir schon sagen.“
„Du hättest mich wenigstens sofort anrufen können!“
„Mein Lieber, dann hätte er dir auch gleich selber das richtige Datum nennen können. Nein, ich musste ihm versprechen, dir nichts davon zu sagen.“ Wieder warf Breuer einen kritischen Blick nach rechts. „Nun reg dich nicht auf; die zwei Tage!“
„Verdammt Klaus, das ist doch nicht dein Ernst! Du weißt genau, dass es nicht um ‚die zwei Tage‘ geht! Ich soll mich nicht aufregen, wenn mein Sohn mich anlügt, nachdem er fünf Jahre im Bau war und nach Hause kommen soll? Du hättest es mir sagen müssen“, wiederholte Daniel. „Hast du vergessen, wie lange wir schon befreundet sind?“
„Ich habe durchaus nicht vergessen, wie lange wir schon befreundet sind, mein Lieber. Aber zum einen bin ich in dieser Angelegenheit in erster Linie Bens Anwalt, erst in zweiter Linie dein Freund. Mein Mandant geht vor, verstehst du? Und zweitens ist dein Sohn erwachsen; also mach gefälligst nicht so ein Theater.“
Daniel machte den Mund auf, schwieg dann aber. „Und wo war er die letzten beiden Tage? Und Nächte?“, fragte er nach einer Weile.
Breuer hielt vor einer roten Ampel und hob resigniert die Hände. „Ich weiß es nicht! Und es geht mich auch nichts an. Und dich übrigens auch nicht.“ Über das Steuer gebeugt, sah er Daniel Skipanski besorgt an. „Hör zu, Daniel, er wird jetzt wahrscheinlich schon auf dem Hausboot sein; ich habe ihm gesagt wo der Schlüssel liegt. Und“, er hob die Hand, „tu uns allen einen Gefallen und mach keine Szene, wenn du nach Hause kommst. Du wirst ihn nach fünf Jahren wohl kaum mit einer Standpauke empfangen wollen, oder?“ Er wandte sich wieder der Straße zu und fuhr weiter stadtauswärts.
„Aber warum?“, murmelte Daniel Skipanski und schüttelte den Kopf. „Warum nur?“
„Er wird seine Gründe haben.“
Eine Weile blieb es still. „Du hast mir mal gesagt, ich klammere zu viel“, sagte Daniel leise und blickte aus dem Fenster, wo rechts der Riesenkomplex des Polizeipräsidiums auftauchte und langsam wieder verschwand. „Aber weißt du ...“
„Ja, ich weiß, Danny.“ Klaus Breuer legte ihm kurz die Hand auf den Arm. „Ich weiß.“
Vom Nachbarschreibtisch aus beobachtete Langer unauffällig seinen jüngeren Kollegen, wie dieser seit nunmehr vier Minuten verträumt und – bis auf seine rechte Hand – nahezu bewegungslos in seiner Espressotasse rührte. Korp bemerkte es nicht. Kurz bevor Langer nicht mehr an sich halten konnte und zu explodieren drohte, rettete seinen Mitarbeiter das Läuten des Telefons.
„Guten Morgen, Herr Dr. Eilers“, sagte Korp, als der Rechtsmediziner sich meldete.
Langer fuchtelte mit den Armen, was bedeutete, den Lautsprecher anzustellen.
„... Morgen. Was sollte das mit dem Finger, den ich gestern noch bekommen habe – ohne Kommentar und Papiere oder sonst was?“
„Nun, wir dachten, damit Sie alles beisammen haben, die komplette Leiche sozusagen.“
„Welche Leiche? Eure Brentanoleiche, die bei mir auf dem Tisch liegt?“
Korp sagte langsam: „Das ist keine Brentanoleiche. Das ist eine Leiche, die gestern im Brentanopark gefunden wurde. Eine Brentanoleiche wären die sterblichen Überreste eines Mitglieds jener hoch angesehenen, alteingesessenen Frankfurter Familie, deren Namen dieser Park trägt, weil sie ...“
Langer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Nun reißen Sie sich mal zusammen, Korp, ja?“, zischte er leise. Dann sprach er in den Lautsprecher hinein: „Also, Doktor, was ist mit dem Finger?“
„Der Finger gehört nicht zu der bislang unbekannten männlichen Leiche, die gestern im Brentanopark gefunden wurde“, kam es steif durch den Lautsprecher.
„Wie denn – haben Sie etwa bereits eine DNS-Analyse machen können?“
„Quatsch DNS! Ich sehe auch so, dass der Finger nicht zu der Brentano... ähm, Leiche gehört, die gestern im Brentanopark gefunden wurde.“
„Wie …?“ Langer runzelte die Stirn.
„Ach …?“ sagte Korp gleichzeitig.
„Kinder, Kinder.“ Seufzen und Kopfschütteln wurden gleichermaßen akustisch übertragen. „Eure Brentano... ähm, die Leiche, die gestern – und so weiter – hat noch alle zehn Finger! So einfach kann es sein!“
„Scheiße!“, entfuhr es Korp.
„Wenn Sie es so sehen wollen. Ich habe aber auch gute Nachrichten, was diesen toten Herrn mit den zehn Fingern anbelangt.“ Dr. Eilers liebte Kunstpausen und wusste, dass sich die beiden Kriminalbeamten jetzt gespannt über das Telefon beugten, um kein Wort zu verpassen.
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