„Schlafen, essen, verdauen, schlafen, essen ...“, lachte sie. „Nicht sehr abwechslungsreich, aber verlässlich.“ Cora nahm ein Brötchen und nickte dankend, als er ihr Kaffee einschenkte. „Seit ein paar Tagen denke ich, er betrachtet mich ganz nachdenklich, als wollte er sagen: Dich kenn‘ ich doch!“
„Na klar, als Futterquelle“, grinste er. Dann wurde er ernster. „Du, da ist heute Nacht etwas Komisches passiert.“
„Hier? Was denn?“
„Na ja, ich weiß nicht recht. Eigentlich ...“ Tobias sah sich in der hellen, freundlichen Küche um; unter der heiteren Morgensonne schien ihm der unheimliche Schrei so unwirklich wie ein halb vergessener Traum.
Cora hörte aufmerksam zu, als er ihr sein nächtliches Erlebnis erzählte. „Es war wirklich gruselig. Ein Schrei voller Angst und Entsetzen.“
„Und du meinst, es hat etwas mit dem Hausboot zu tun?“
Tobias sah sie nachdenklich an. „Keine Ahnung, warum mir der Alte da unten in den Sinn kam. Vielleicht, weil jeder so ein Geheimnis um ihn gemacht hat. Jedenfalls war es nicht auf der Straße draußen, sondern etwas weiter entfernt. Wie unterdrückt, aber schaurig genug. Wenn ich nicht wach gewesen und das Fenster nicht offen gestanden hätte, hätte ich sicher nichts gehört.“
„Ob wir die Nachbarn mal fragen?“
„Nein, besser nicht.“ Tobias schüttelte den Kopf. „Kannst du dir vorstellen, was für ein Getratsche das gibt, wenn Frau Meise davon hört? Außerdem schlafen die doch alle mit verrammelten Rollläden … nein, lass mal lieber.“
„Und auf den anderen Booten ist keiner, oder?“
Er zuckte die Schultern. „Ich glaube nicht.“ An den zwei, drei Stegen draußen neben dem Uferweg waren hauptsächlich offene Motorboote, auch das eine oder andere kleinere Kabinenboot festgemacht. Und etwas weiter Richtung Schleuse das Hausboot.
Gedankenvoll nippte Cora an ihrem Kaffee. „Du hast dir das nicht etwa eingebildet?“, fragte sie zaghaft, während sie ihn über den Rand ihrer Tasse musterte.
Er schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, ganz sicher nicht. Nach dem Aufwachen dachte ich kurz, ich hätte geträumt, aber jetzt bin ich sicher, dass ich diesen Schrei wirklich gehört habe.“
„Weißt du was?“ Schalkhaft lächelnd stellte Cora ihre Tasse ab. „Lass uns einfach mal zu dem Typ da runter gehen und ihn fragen, ob er etwas gehört hat.“
Tobias starrte sie an. „Aber kein Mensch hier hat je Kontakt mit ihm gehabt!“
„Zeit, dass sich das ändert, findest du nicht?“ Entschlossen stand sie auf und begann, den Tisch abzuräumen.
Tobias zögerte immer noch. Dann schien er sich zu besinnen und nickte. „Ich gehe gleich morgen mal rüber“, sagte er.
Das Hausboot schmiegte sich kunstvoll in die leichte Einbuchtung, die der Main ins Ufer gewaschen hatte. Von der Straße aus war es auf den ersten Blick kaum zu sehen, zu sehr verdeckten es die Zweige einer riesigen Trauerweide, die vom Ufer schräg in den Fluss hineinwuchs – ein fast undurchdringlicher, hellgrüner Vorhang, alles andere als einladend.
Tobias betrat zögernd den hölzernen Steg, der hinunter zum Main führte; nach ein paar Metern zweigte rechts ein weiterer, schmalerer Holzsteg ab und endete direkt an der Tür des Bootes. Dieser Zugang hier schien nur für den Liegeplatz des Hausbootes gemacht, während an den anderen Landungsstegen ein paar Schritte weiter sich jeweils mehrere Boote einen Steg teilten.
Tobias blieb, unschlüssig die letzten Schritte zu tun, an der Abbiegung zur Gangway stehen und sah sich um.
Urplötzlich fühlte er sich in eine andere Zeit versetzt. Wasser plätscherte sachte an die dunklen Planken; die Zweige der großen Weide streichelten sanft das Dach des alten Bootes; eine Entenfamilie ruderte leise schnatternd zum Ufer hin, winzige Kielwellen hinter sich her ziehend. Er kam sich vor wie auf einem verwunschenen Planeten; selbst das Getöse der A5, die einige hundert Meter weiter östlich den Main überspannte, schien abrupt verstummt. Die weißen, glänzenden Motorboote dümpelten nur wenige Meter nebenan und schienen doch wie aus einer anderen, futuristischen Welt.
„Sie wollen zu mir?“
Erschrocken fuhr Tobias herum.
Der Mann oben am Uferweg war groß und hager; seinen Oberkörper leicht vorgebeugt, in der Hand eine Jutetasche mit dem Emblem eines Supermarktes, stand er da und blickte aufmerksam auf Tobias hinunter – nicht unfreundlich, doch auf der Hut. Noch nie in seinem fünfunddreißigjährigen Leben hatte Tobias Kirchner sich so sehr gewünscht, der Boden möge sich unter ihm auftun, wobei ihn weniger der Höllenschlund als dreckige Mainbrühe erwartet hätte.
„Nein. Ja. Doch, schon ... ich … ähm ...“
Erst jetzt sah er den grauen, mittelgroßen Mischlingshund, der hinter dem Mann auf dem Steg stand und leise brummte. Auch der Mann war grau. Das schien seine hervorstechendste Eigenschaft zu sein. Graues, langes Haar, das ihm unordentlich um den Kopf stand und hinten zu einem Zopf gebunden war; grauer, ungepflegter Bart; grauer Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte und für den Tag zu warm war. Das Gesicht eingefallen und müde, von tiefen Furchen durchzogen.
Alt. Grau. Müde.
Wären da nicht seine Augen gewesen.
Hellblaue, geradezu strahlende Augen, selbst auf die zehn Meter Entfernung. Hellwach.
„Ja?“ Abwartend blieb der Fremde stehen, als seien die Rollen vertauscht und nicht Tobias, sondern er selber sei der Eindringling in diesem Garten Eden. Endlich setzte er sich in Bewegung und kam langsam näher. Er wirkte nicht eigentlich verwahrlost, eher nachlässig. Wie jemand, der es aufgegeben hatte und es nicht mehr der Mühe wert fand, sich zurechtzumachen. Weil es niemanden gab, den es interessierte.
So alt ist der gar nicht, schoss es Tobias durch den Kopf. Und dann: Reiß dich endlich zusammen. Der ‚Skipper‘ stand jetzt direkt vor ihm.
„Ja, also, bitte entschuldigen Sie, tut mir leid ...“ Tobias streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Tobias Kirchner, wir wohnen da drüben.“ Er machte eine unbestimmte Handbewegung zum Ufer hin.
Der Fremde nickte. „Ich weiß. Ich habe Sie schon gesehen. Ihr habt ein Baby, nicht wahr? – Daniel Skipanski.“ Er ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie.
Tobias blickte überrascht auf; gleichzeitig atmete er erleichtert aus. „Sieht jetzt etwas komisch aus, dass ich hier so … Aber ich wollte tatsächlich zu Ihnen.“
„Dann kommen Sie mal rein.“ Ohne weitere Umstände holte Daniel Skipanski einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und ging die schmale Gangway hinauf zur Tür. Der Hund folgte ihm.
Sie betraten eine überraschend geräumige Kajüte mit einem großen Sofa und zwei Sesseln vor einer Front von vier Fenstern, die einen Blick über den Fluss zum Schwanheimer Ufer hinüber freigaben. Von da ging es links und rechts – hieß das nicht backbord und steuerbord auf Schiffen? – durch halb offen stehende Türen in andere Räumlichkeiten. Hinter einer davon konnte man einen Schreibtisch erkennen. Der Hund war in eine Ecke getrottet und hatte sich seufzend in einem Korb niedergelegt.
Alles wirkte schäbig, aber sauber, wie der Mann selbst.
„Nehmen Sie Platz. Ich wollte mir einen Tee machen, hatte aber keinen mehr zu Hause.“ Daniel Skipanski legte die Tasche auf eine kleine Küchenzeile gegenüber der Sitzecke, ging dann in den angrenzenden Raum und kam ohne Mantel wieder. Die Tür schloss sich hinter ihm.
„Nein, bitte, machen Sie sich keine Umstände.“ Tobias fühlte sich unbehaglich. „Ich wollte nur ...“
„Ja?“, fragte Skipanski wieder, während er sich der Kombüse zuwandte.
„Nun ja“, Tobias setzte sich unbeholfen auf eine Sessellehne. „Ich wollte Sie fragen … Wie Sie schon sagten, wir haben das Baby, da muss man öfters mal nachts raus und … und heute Nacht habe ich einen lauten Schrei gehört, hier aus der Richtung des Hausbootes, und wollte Sie fragen ....“ Er brach ab. Die ganze Situation erschien ihm inzwischen derart grotesk, dass er sehnlichst wünschte, nie gekommen zu sein.
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