„ Lass ihn, Daniel, gib ihm noch Zeit“, meinte er jetzt, während sie auf Ben warteten, der bereits zwanzig Minuten überfällig war. Einmal mehr musste er als Sparringpartner für die Vatersorgen seines Freundes herhalten. „Er hat es noch nicht verkraftet.“
„ Verkraftet!“ Daniel lachte bitter auf. „Himmelherrgott, Klaus, verkraftet! Wie kann man das denn verkraften?! Natürlich hat er das noch nicht verkraftet! Marion und Kathrin sind gerade mal ein Jahr tot; meinst du denn, ich hätte ...“ Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Aber Ben ist erst seit ungefähr zwei Monaten so verändert. Das ist es, was mir Sorgen macht.“
„ Wie verändert? Ich habe ihn lange nicht gesehen, er rief nur einmal an und hatte eine Frage vor einer Klausur. Ist auch schon wieder sechs Wochen her.“
„ Ich weiß nicht, habe ihn ja selber kaum gesehen. Das ist es ja eben.“
„ Liebeskummer?“ Klaus Breuer schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke, es hat etwas mit dem Prozess zu tun. Lass uns den erst einmal hinter uns bringen; du wirst sehen, danach wird es ihm besser gehen.“
Daniel seufzte. „Mir auch.“
„ Geht er noch zu diesem Psychologen?“
Daniel nickte. „Zumindest bekomme ich regelmäßig die Rechnungen.“
„ Daniel“, begann Klaus vorsichtig, „hör mal, der Junge ist inzwischen einundzwanzig. Ich meine, – ich weiß, du hast nur noch ihn und du hängst sehr an ihm, aber … manchmal … wenn ich ehrlich sein soll ...“
„ Was denn?“ Unwillig fuhr Daniel auf.
„ Nun ja“, Klaus atmete tief ein, „ich habe das Gefühl, dass du klammerst.“ Er hob die Hand. „Schon gut, nicht aufregen. Er muss doch nicht jede Woche bei dir auftauchen, oder?“
Daniel blickte bestürzt. „Aber … aber das hat er doch seit damals immer ...“
Er brach ab. Ben hatte das Lokal betreten. Schlurfend kam er zu ihrem Tisch. Schwerfällig, die Augen gesenkt, fläzte er sich ohne ein Wort der Entschuldigung auf seinen Platz, gerade noch verständlich „n‘Abend“ vor sich hin murmelnd. Die beiden Männer sahen sich an, Daniel machte eine hilflose Geste, die bedeutete: Hab ich‘s nicht gesagt?
Da stand Klaus Breuer auf, stellte sich vor Ben hin, reichte ihm förmlich die Hand, sogar eine kleine Verbeugung brachte er fertig, und sagte: „Lieber Ben, ich wünsche dir von Herzen alles Gute zu deinem Geburtstag. Lebe dein Leben und schau nach vorn!“
Verblüfft blickte der junge Mann hoch, verwirrt und verlegen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen und die dargebotene Hand zu nehmen.
„ Danke, Klaus“, murmelte er.
Sein Vater erhob sich ebenfalls. „Alles Gute, mein Junge.“
Seine Umarmung war flüchtig, weil sich ihr Ben sofort wieder entzog.
„ Ist ja gut.“ Ganz offensichtlich war ihm die Szene peinlich, doch wenigstens spielte nun ein winziges Lächeln in seinem Gesicht. Und er nahm auch eines der drei Sektgläser, die Daniel bereits vorher in Auftrag gegeben hatte und jetzt herbeiwinkte, und ließ den Toast über sich ergehen.
„ So, das hätten wir hinter uns gebracht!“, meinte Klaus grinsend, während sich alle wieder setzten. „War ja nicht so schlimm, oder?“
Er stieß sein Patenkind kameradschaftlich in die Seite. Tatsächlich wurde dessen Lächeln etwas breiter.
„ Dann lasst uns jetzt mal bestellen.“ Daniel griff nach einer der Karten, die seit einer halben Stunde auf dem Tisch lagen. „Ich habe Hunger.“
„ Es sieht gut aus.“ Klaus Breuer schob zufrieden seufzend ein leeres Glas zu Seite, aus dem er eben noch die Reste einer köstlichen Zabaione gelöffelt hatte. „Es haben sich viele Zeugen gemeldet, denen der Fahrer zwischen dem Bad Homburger Kreuz und der Unfallstelle in Niederrad böse aufgefallen ist. Drängeln, rücksichtsloses Fahrbahnwechseln, rechts überholen, überhöhte Geschwindigkeit – das ganze Programm.“
„ Und wie …?“
„ Internet.“ Der Anwalt grinste verhalten. „Hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber: Facebook sei Dank!“ Ernster fuhr er fort: „Die Polizei hat dort spezielle Seiten, auf denen sich Zeugen melden können. Und die haben wir alle geladen.“
Ben war wieder in seinen Missmut verfallen. „Lasst mich damit in Ruhe!“ Brüsk stand er auf. „Hab noch zu tun. Und ich will nichts mehr hören von diesem Scheiß-Prozess!“
In die Gerichtsgebäude der Frankfurter Justizbehörden eine Waffe einzuschmuggeln, ist nahezu eine Unmöglichkeit. Die Sicherheitsvorkehrungen und die Kontrollen an den Eingängen für jedermann, seien es Angestellte, Anwälte oder Besucher, sind wasserdicht. Personenschleusen, Körperscanner, Taschenröntgengeräte – kein Schlüsselbund, kein Reißverschluss, kein Jeansknopf hat die Chance, ungesehen in das Gericht zu gelangen.
Ben Skipanski hatte wieder in der letzten Reihe des kleinen Verhandlungsraums Platz genommen. Sein Vater saß mit Klaus Breuer vorne neben der Staatsanwältin; der Raum war mäßig besetzt. In der ersten Bank saßen eine äußerst attraktive Mittdreißigerin in einem ganz offensichtlichen sehr teuren Kostüm; neben ihr ein Mann, der dem Angeklagten auffallend ähnlich sah. Beide blickten hin und wieder nervös zur Anklagebank hinüber, wo Rolf Suttner ruhig und entspannt neben seinem Verteidiger saß. Im Gegensatz zu seiner Frau Betty und seinem Bruder Oliver schien er die Ruhe selbst; das für ihn typische und von seiner Umwelt meist gefürchtete leise Lächeln hing unveränderlich in seinen Mundwinkeln – ja, er nickte den beiden mehr als einmal beruhigend zu, als ginge ihn die ganze Veranstaltung, wenn überhaupt, nur am Rande etwas an.
Kurz nach Beginn der Verhandlung stand Ben Skipanski langsam auf, hob seine rechte Hand, zielte flüchtig und gab kurz hintereinander zwei Schüsse auf den Mann ab, der seine Mutter und seine Schwester auf dem Gewissen hatte.
Danach blieb er aufrecht und bewegungslos stehen, Augen und Waffe unverwandt auf Rolf Suttner gerichtet. Schließlich ließ er die Pistole langsam sinken. Man hörte sie polternd auf den Fußboden fallen.
Dann brach die Hölle los.
Menschen schrien auf; Bens Vater und Klaus Breuer schnellten von ihren Sitzen hoch; der Angeklagte brach zusammen; Justizbeamte bahnten sich einen Weg zu Ben, einer drehte ihm brutal die Hände auf den Rücken und legte ihm Handschellen an; ein anderer kniete auf dem Fußboden auf der Suche nach der Waffe. Jemand rief nach einem Krankenwagen.
Ben Skipanski ließ sich widerstandslos festnehmen.
Rolf Suttner wurde von der ersten Kugel getroffen; der zweite Schuss ging, weil Suttner sofort zu Boden ging, in das Gestühl der Zeugenbank neben ihm. Er blutete stark, doch unter den Zuschauern im Gerichtssaal befand sich eine unerschrockene Krankenschwester, die die Blutung stillte und bereits die richtigen Maßnahmen ergriffen hatte, als der Notarzt kam.
Betty Suttner saß neben ihrem Schwager Oliver auf einem unbequemen Schalensitz im Notaufnahme-Wartebereich der Frankfurter Unikliniken und spürte den unbezähmbaren Wunsch nach einer Zigarette. Sie waren dem Krankenwagen vom Gericht bis nach Sachsenhausen gefolgt; Oliver hatte dann rasch den Wagen im Parkhaus abgestellt, während Betty ausgestiegen und zur Notaufnahme geeilt war.
Nichts Lebensgefährliches, hatte der Arzt gesagt, der im Laufschritt, mit einem Röntgenbild in der Hand, durch den Flur geeilt war. Die Kugel sei am Knochen abgeprallt; zwar sei keine Arterie getroffen, doch habe das Projektil, bevor es abgeleitet wurde, Teile des linken Os femoris zersplittert …
Читать дальше