„ Mauscheln? Der Verteidiger und der Staatsanwalt? Das glaubst du doch nicht im Ernst?“
„ Schon dagewesen, Daniel“, antwortete Breuer, „alles schon da gewesen. Vielleicht spielen sie zusammen Golf, vielleicht – was weiß ich. Der Angeklagte ist ein sehr hohes Tier in der Wirtschaft, vergiss das nicht. So einer hat weit reichende Beziehungen.“ Er schüttelte den Kopf.
„ Das darf doch nicht ...“
„ Komm!“ Breuer nahm Daniel am Arm, „Lass uns von hier verschwinden und einen Kaffee trinken, bevor dein Vertrauen in das deutsche Rechtssystem völlig zusammenbricht. Und dann erkläre ich dir den Unterschied zwischen einem Strafbefehlsverfahren und einer Hauptverhandlung.“
Daniels Skipanski und Klaus Breuer, sein Anwalt für die Nebenklage, waren alte Schulfreunde. Äußerlich hätten sie nicht verschiedener sein können: Daniel war hochgeschossen und hager und ging leicht gebeugt, das nur leicht schüttere Haar, in den letzten Monaten vollends grau geworden, trug er nachlässig halblang; er liebte Jeans – mit Vorliebe in Kombination mit einfarbigen Hemden und ärmellosen Westen – und hasste Krawatten. Klaus dagegen war einen guten Kopf kleiner, machte aber in der Breite den Mangel an Höhe wett. Er war hochintelligent, was nicht jeder sofort bemerkte – eine Tatsache, aus der er schon oft vor Gericht Kapital geschlagen hatte –, äußerst lebhaft und unerschütterlicher Optimist; eine Frohnatur und ein blitzschneller Denker. Nie sah man ihn anders als im dunklen Anzug mit Krawatte und weißem Hemd, mochten die Temperaturen sibirisch oder – wie heute – subtropisch sein. Nie sah man ihn ohne ein weißes Taschentuch, mit dem er sich, ebenfalls unabhängig von der Witterung, ständig ein paar Schweißtropfen von der Stirn tupfte, einer – wollte man es galant formulieren – sehr hohen Stirn. Tatsache war, dass ihm außer einem halbrunden lockigen Kranz nichts mehr von seiner einstigen Haarpracht geblieben war.
Seit der neunten Klasse, als Daniel von Klaus Latein und dieser von jenem Mathe abgeschrieben hatte, hatten sie einander immer wieder aus dem einen oder anderen Lebenstief heraus geholfen. Wie damals, als Klaus‘ Frau Renate innerhalb von nur wenigen Stunden für immer aus seinem Leben und ihrer fünfzehnjährigen Ehe verschwunden war. Oder als Daniels Sohn Ben nicht nur in der achten, sondern auch nach der zehnten Klasse eine Ehrenrunde auf dem Gymnasium gedreht hatte und dort zudem noch mit einer ordentlichen Portion ‚Gras‘ erwischt worden war.
Doch waren alle diese kleinen und großen Miseren nur Bagatellen im Vergleich zu dem Abgrund, vor dem Daniel und sein Sohn seit einem guten halben Jahr standen.
„ Das heißt, es wäre von vornherein klar gewesen, dass dieses Schwein nicht ins Gefängnis muss, wenn der Staatsanwalt mit diesem Strafbefehl durchgekommen wäre?“, fragte Daniel ungläubig.
Sie saßen jetzt in einem der Cafés in der Nähe des Gerichts, beide ein leeres Cognacglas und eine volle Kaffeetasse vor sich. Klaus Breuers Taschentuch war bei der Hitze unablässig im Einsatz.
Er nickte. „Geldstrafe oder maximal ein Jahr auf Bewährung. Oder beides. Und der Beschuldigte muss nicht erscheinen. Trotzdem gilt er als vorbestraft. Man macht das oft bei kleineren Vergehen oder bei Verkehrssachen und so weiter. Die Gerichte werden dadurch enorm entlastet.“
„ Kleineren Vergehen, Klaus, ich bitte dich!“
„ Keine Angst, Danny“, unwillkürlich war Klaus wieder in die Anrede aus Jugendtagen verfallen, „ich werde alles dafür tun, dass der seine ordentliche Strafe bekommt. Denn wir sind nicht der Meinung, dass es sich hier um eine reine Fahrlässigkeit handelt. Und –“, er sah seinen Freund an, „bei einer Verhandlung muss Suttner erscheinen, wenn es nicht sehr unangenehm für ihn werden soll.“
Rolf Suttner sah seinen Anwalt ärgerlich an. „Hätten Sie das nicht besser deichseln können? Wozu bezahle ich Sie eigentlich?“
„ Ich habe getan, was ich konnte!“
„ Dann war das eben nicht genug!“
„ Hören Sie, Herr Suttner, die Chancen standen fünfzig zu fünfzig, dass das Verfahren relativ schnell und schmerzlos über die Bühne geht. Aber letztlich entscheidet in diesem Land immer noch der Richter, ob er auf einer Verhandlung besteht oder nicht. Oder eben eine Richterin.“
Rolf Suttner war gerade aus Boston zurückgekehrt und saß nun müde und schlecht gelaunt im Arbeitszimmer seiner Kronberger Villa. „Ich bin davon ausgegangen, dass die Sache aus der Welt ist, wenn ich zurückkomme“, sagte er schneidend. „Ich habe weiß Gott weder Zeit noch Lust, mich auch noch mit solchen Dingen zu beschäftigen. Dazu hat man Leute wie Sie! – Himmelherrgott, es war ein Unfall! “
Er stand auf und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen.
„ Und was bedeutet das jetzt konkret?“ Die Hände in den Hosentaschen, blieb er vor dem Anwalt stehen und schaute auf ihn herab.
„ Zunächst einmal, dass Sie zur Hauptverhandlung erscheinen müssen.“
„ Ich muss was ?“, fragte Suttner mit der Ungläubigkeit eines Menschen, der gewohnt war, selber zu bestimmen, wie die Welt zu sein hatte und wie nicht.
„ Ich möchte es Ihnen dringend raten!“ Der Anwalt legte genüsslich einen drohenden Unterton in seine Stimme. Ab und zu überkam es ihn: Er hatte es einfach satt. Leute wie Suttner zu Klienten zu haben war schön und gut, denn es zahlte sich finanziell mehr als aus. Doch manchmal sehnte er sich nach seiner alten, kleinen Kanzlei zurück, mit der er einmal angefangen hatte ...
Nur manchmal. Und lange hielten solche Anwandlungen nie an.
„Damned !“ Gereizt stieß Suttner mit dem Fuß gegen den Papierkorb, der sich ihm in den Weg stellte. „Was ist der Mann? Architekt? – Bieten Sie ihm Geld! Vielleicht wartet er nur darauf!“
Betty Suttner hatte ihren Mann die ganze Zeit beobachtet; jetzt zog sie den Mund verächtlich nach unten.
„ Rolf, du machst dich lächerlich.“
Er würdigte sie keines Blickes. „Und was noch?“, blaffte er den Anwalt an, während er seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufnahm.
„ Nun“, antwortete dieser vorsichtig, „es liegt im Bereich des Möglichen, dass Sie nicht mehr mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.“
Suttner blieb abrupt stehen. „Das heißt …“ Er starrte den Anwalt fassungslos an. „Sie meinen... Sie wollen damit sagen, ich müsste ins – Gefängnis!? “
Einen Augenblick stand er noch reglos und musterte den Anwalt. Dann lachte er plötzlich laut auf. „Wegen eines dummen Unfalls!? Wenn das ein Scherz sein soll, Herr Dr. Walther, dann war er entschieden unangebracht!“
Ein halbes Jahr später, am Abend vor der Hauptverhandlung gegen Suttner, fast ein Jahr nach dem verheerenden Unfall, verabredeten sich Vater und Sohn Skipanski zu einem kleinen Essen: Es war Bens einundzwanzigster Geburtstag. Nach Feiern war zwar keinem von ihnen zumute, doch hatte Daniel auf diesem Essen bestanden. Ben hatte sich in den letzten Wochen kaum sehen lassen, und wenn, lagen dunkle Schatten um seine mürrisch dreinblickenden Augen. Seine Mundwinkel schienen in Dauerstellung nach unten gezogen, seine Kleidung war ganz gegen seine Gewohnheit nachlässig, Fragen nach dem Fortgang seines Jura-Studiums wich er aus.
Klaus Breuer war ebenfalls eingeladen worden; Daniel hatte den Eindruck, ihn als Katalysator und Schutzschild gegen seinen Sohn zu benötigen. Außerdem war er Bens Patenonkel und hatte sich immer blendend mit ihm verstanden. Wenn überhaupt jemand, dann war er es, der wieder einen Draht zu ihm finden würde.
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