Allerdings war sein Innerstes auch nicht so tot, wie ein Nekromant dies vermutet hätte und wäre Siegoin sich seines Dieners nicht so sicher, hätte er vielleicht den Aufruhr in dessen Seele gespürt. Rrordrak beobachtete aus seiner toten Hülle heraus wie sich die Dinge um ihn herum entwickelten. Doch im Gegensatz zu den anderen gequälten Seelen, die jedes Interesse an den Dingen um sich herum verloren hatten und die nur noch unter ihrer eigenen Haltlosigkeit litten, schien ein kleiner Funke in seinem Inneren immer noch eigene Ziele zu verfolgen. Die Seelen der Untoten griffen nach jedem Strohhalm, der ihnen Halt bot, in dieser Welt, in der sie ihre physische Existenz verloren hatte. Sicher, ihr Körper war noch da, doch er reagierte nur noch indirekt auf die Anweisungen der Seele, weil der Verstand seine Macht verloren hatte. Die Verbindung zum Hirn war getrennt, das war nur noch ein vertrocknender Klumpen grauer Masse in den Schädeln der Untoten.
In Rrordraks Hirn jedoch sah es anders aus. Die schwarze Magie, der er sich verschrieben hatte, hatte mit dem Tod des Körpers ihr Dasein keineswegs beendet. Wie in einem Glas hatte sie das Gehirn vor allen natürlichen Angriffen von außen abgeschirmt. Ja, sogar dem Angriff der nekromantischen Fähigkeiten hatte sie wiederstanden, ohne das Siegoin dies bemerkt hätte. Die Seele hatte er gebunden, doch die schwarze Magie in Rrordrak arbeitete bereits daran, Faden für Faden dieser Bindung zu lösen. Anstatt vollkommen bewegungslos da zu sitzen, zuckte immer wieder ein einzelnes Glied, eine Hautfalte oder ein Muskel im Gesicht des Schwarzdruiden. Alles Zeichen dafür, dass die verschiedenen Mächte in Rrordrak einen stillen Kampf miteinander und gegeneinander ausfochten.
Klappernd und knirschend erhob sich der Drache mit magischer Kraft in den Himmel. Der Flugwind in den Knochen erzeugte ein Rauschen, an der einen oder anderen Stelle, wo ein Markknochen offen hervor trat auch ein Heulen oder Pfeifen.
In diesem grausigen Konzert eingebettet, ließ Siegoin sich mit seinen Begleitern zurück tragen auf die Insel der Nekromanten. Scheinbar unauffällig , aber zielstrebig schoben Tally und Nat sich durch die Menschen, die den Hafen bevölkerten. Eigentlich war der Hafen immer ein Treffpunkt vieler Menschen, wie ein Marktplatz oder eine Arena. Doch in der Zeit der Herrschaft Rrordraks war es den Bewohnern Arkadiens verloren gegangen, sich hier zu treffen, den ein- und ausfahrenden Schiffen zuzusehen oder einfach nur mit Freunden und Bekannten an der Hafenmauer zu stehen.
Umso mehr drängten jetzt Alle, die die wiedergewonnene Freiheit genießen wollten, zurück an ihre angestammten Plätze.
Tally kam dieses Gedränge entgegen, weil es ihnen gelang, sich unauffällig dem Haus zu nähern, in dem möglicherweise, nein hoffentlich, Odu und Mahti gefangen gehalten wurden.
Sie schoben sich an den angrenzenden Häusern entlang und passierten die letzte Gasse vor dem Haus, als Nat Tally packte, sie in die Gasse schob und heftig küsste. Einen Moment lang erwiderte sie seinen Kuss, dann schob sie ihn von sich.
„Was zum … ?“ Seine Hand verschloss ihren Mund.
„Da stehen mindestens vier Kerle. Zwei an der Eingangstür zu dem Haus und zwei an der Hafenmauer, die die Leute im Blick behalten. Wenn wir schon auf der Straße den Kampf beginnen, werden wir Odu und Mahti niemals lebend finden.“
Tally stieß Nat grob von sich, dass er nach hinten taumelte. An der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, sauste eine schwere, mit Nägeln beschlagene Keule durch die Luft. Der vierschrötige Kerl, der versucht hatte, Nat den Schädel einzuschlagen, wurde von dem Schwung des Fehlschlages nach vorne getragen. Im selben Moment traf ihn Tallys Fußspitze unter dem Knie. Der Treffer ließ sein Bein einknicken. Auch Nat hatte seinen Schrecken überwunden und schlug dem Mann ins Gesicht, was ihm ein gedämpftes Grunzen entlockte. Mit einer schnellen Bewegung kniete der junge Mann nieder, packte die Keule seines Gegners mit einer Hand unter dem mit Nägeln beschlagenen Kopf und riss ihn hoch. Er traf den Knienden voll vor die Stirn, die furchtbare Waffe ließ die Haut aufplatzen und Knochen knirschen. Jetzt hatte auch noch Tally ihren Fuß hochgerissen und ließ die Hacke auf den Nacken des Mannes sausen. Mit einem Stöhnen sank er zu Boden und blieb bewegungslos liegen.
„Na das ist ja interessant.“ Nat schüttelte den Kopf.
„Was ist interessant?“ Tally blickte auf den am Boden liegenden Mann.
„Auf was du noch alles achtest, wenn du mich küsst. Sogar noch ob … also gut. Damit wird mir einiges klarer.“
Entgeistert blickte Tally ihren Geliebten an. Dann sah sie das Lächeln in den Fältchen um seine Augen. Mit der flachen Hand schlug sie ihm vor sie Stirn.
„Na das hoffe ich doch, dass alles klar ist. Dann gibst du dir beim nächsten Kuss vielleicht mehr Mühe.“
Doch sofort wurde sie wieder ernst.
„War das einer von den Vier?“
„Nein. Den hier habe ich noch nie gesehen. Aber vielleicht ist er uns den Hafen entlang gefolgt. Du bist ja nun wirklich eine bemerkenswerte Erscheinung und er wird sich gedacht haben, wo wir hin wollen. Nur gut, das er es alleine versucht … .“
Nat blieben die Worte im Hals stecken als sich plötzlich drei weitere Männer in die Gasse schoben. Und auch von der anderen Seite kamen noch zwei heran.
„Ja, nur gut … !“
Tally zog ihren Säbel, Nat ließ sein Schwert aus der Scheide gleiten.
„Also gut, schnell, unauffällig und keiner darf ins Haus entkommen.“
Die beiden jungen Leute stellten sich Rücken an Rücken, um sich Schutz zu geben, sie fixierten die sich nähernden Angreifer.
„Fünf Männer, das sollte doch für uns zu schaffen sein.“
Kaum war Nat verstummt, näherten sich drei weitere Männer, so dass jetzt von jeder Seite vier Angreifer auf die beiden Eingeschlossenen zuhielten.
„Überleg dir das nächste Mal, was du sagst oder noch besser. Sei still“, zischte Tally. Ihr Blick ging die Hauswand entlang.
Zu beiden Seiten der Gasse gingen die Hauswände etwa drei Mannshöhen hoch, Lagerhäuser, mit glatt verputzten Wänden und ohne Fenster. Es gab keine Möglichkeit von hier aus auf eines der Hausdächer zu klettern. Ein langer Riss zog sich über eine der Wände, doch wenn sie versuchen sollten dort hinaus zu klettern, wären die Angreifer schnell heran und würden sie aus der Wand schlagen und stechen.
Einen Moment lang glaubte Tally eine Bewegung an der Dachkante des südlichen Lagerhauses zu sehen. Doch sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Männer, die sich ihnen näherten.
Im Gegensatz zu den Männern, die ihr und Nat in dem Hinterhalt aufgelauert hatten, schienen diese hier erfahrene Schläger zu sein. Die muskulösen Arme, die vernarbten Gesichter und die Art und Weise, wie sie sich vorsichtig näherten, in dem Versuch, sich in der engen Gasse nicht zu sehr zu behindern, dass zeugte von einer reichhaltigen Erfahrung bei Schlägereien und Messerstechereien in dunklen Gassen und Hinterhöfen.
„Tally, … ich … :“
„Ja, ich dich auch. Aber jetzt lassen wir sie bluten.“ Tally löste sich von Nat und wandte sich der Gruppe zu, die vom Hafen her in die Gasse hinein bewegte. Nat straffte die Schultern und nahm Front gegen die andere Seite ein. Er machte einen Schritt, nahm festen Stand, als plötzlich von oben ein Scharren ertönte.
Ein Schatten geriet in Nats Blickfeld, dann regneten plötzlich Steine, Dachziegel und sogar ein Holzfass von oben auf die Angreifer der beiden jungen Menschen.
Einer der Männer wurde von einem Dachziegel am Kopf getroffen und ging blutend zu Boden. Einem anderen prellte ein schwerer Stein das Schwert aus der Hand. Zwei der Männer entgingen nur mit einem schnellen Sprung dem herabfallenden Fass.
Die entstandene Verwirrung nutzten Nat und Tally sofort aus. Nat fasste Tally am Arm und zog sie mit sich auf seine Kontrahenten zu. Schnell waren sei an den vier Männern dran. Anscheinend hatten die unbekannten Helfer auf dem Dach das Geschehen im Blick, denn im selben Moment endete der Regen von Steinen und Holz.
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