Knud Meister und Carlo Andersen
Durch die Fenster des Klassenzimmers konnten die Jungen den Tanz der Schneeflocken betrachten, die der leichte Ostwind vor sich her trieb. Es herrschte ideales Skiwetter. Selbst Erling träumte von derartiger körperlicher Anstrengung und konnte sich nur mühsam auf die Geschichte des Alten Rom konzentrieren.
Jesper murmelte vor sich hin, als ihn der Geschichtslehrer aufrief und fragte: «Und gegen wen kämpfte die Nobilität im Alten Rom? Das wird uns Jesper bestimmt sagen können.»
«Hm, gegen... gegen...», murmelte Jesper verzweifelt.
«Die Lakaien», flüsterte Erling ihm zu.
«Erling sollte nicht so laut flüstern», mahnte der Lehrer. «Nein», fuhr er fort, «es waren nicht die Lakaien, sondern die Plebejer. Vielleicht kann Jesper uns aber sagen, wer die politischen Anführer dieser Partei waren?»
Erling schrieb «Kosaken» auf einen Zettel und schob ihn Jesper zu. Siegessicher sagte Jesper laut: «Die Kosaken.»
«Nein, mein Freund, die waren es ganz bestimmt nicht. Es...»
Weiter kam der Lehrer nicht, denn in diesem Augenblick wurde die Tür des Klassenzimmers geöffnet und der Direktor der Schule trat ein. Lächelnd schaute er die Jungen an, die sich erhoben.
«Ich bringe euch eine Neuigkeit, die euch sicher alle sehr betrüben wird. Unsere Zentralheizung ist reparaturbedürftig. Die Reparatur wird mindestens eine Woche dauern, eher mehr. Wir sind daher gezwungen, euch zehn Tage Winterferien zu geben.»
Nachdem sich der Jubel der Klasse gelegt hatte, fuhr der Direktor fort: «Ich kann eure Freude gut verstehen, ich war auch einmal jung. Bitte vergeßt aber nicht, daß ihr alle bald vor dem Abschlußexamen stehen werdet. Die meisten von euch haben ja recht gute Aussichten, aber einige...» Er ließ den Rest unausgesprochen.
«Das galt dir», flüsterte Erling Jesper zu.
«Warte nur», erwiderte der erboste Jesper, der die Lakaien und Kosaken nicht vergessen hatte.
Der Rest der Stunde verging entschieden zu langsam, endlich aber läutete die Glocke doch zur Pause.
Als die Klasse sich im Schulhof versammelt hatte, sagte Jack Morton laut: «Hört mal alle zu! Das mit den Winterferien ist eine prima Idee. Ich möchte euch dazu einen Vorschlag machen. Mein Onkel Ernst hat einen schönen Gutshof unten in Südseeland, und er hat oft gesagt, ich sollte einmal mit so vielen Freunden hinkommen, wie ich nur zusammenbringen kann. Wie wäre es also, wenn wir alle, mit Skiern bewaffnet, zu meinem Onkel nach Lindeholm führen?»
«Prima!» – «Großartige Idee!» erklang es ringsum.
Nur Jan schüttelte den Kopf und fragte: «Sag mal, Jack, bist du ganz sicher, daß dein Onkel mit einer Invasion von zwanzig Jungen einverstanden ist?»
«Jawohl!» bestätigte Jack. «Du brauchst gar nicht so ungläubig dreinzuschauen.» Er lachte. «Es ist wirklich alles in bester Ordnung. Ich rufe meinen Onkel natürlich an und sage ihm Bescheid. Ihr müßt nur noch eure Eltern um Erlaubnis bitten, alles andere wird klappen.»
*
Zwei Tage später saß die ganze Klasse in der Eisenbahn, in drei aneinandergrenzenden Abteilen, und konnte es kaum erwarten, die Ski in Gebrauch zu nehmen. Außerdem waren alle sehr gespannt auf den Gutshof, der noch aus der Zeit des dänischen Königs Frederik II. stammte.
Jack versicherte allen nochmals, daß sein Onkel sich auf ihren Besuch freue, und Erling bekam überdies die Versicherung, daß er den Gutshof bestimmt nicht leeressen könne.
«Hoffentlich gibt es nicht allzu oft Pfannkuchen?» erkundigte sich Erling vorsichtig.
«Warum?»
«Weil die gute Mads, die Haushälterin von Jans Onkel Helmer in Raunsdal, mich bei unserem letzten Besuch fast ausschließlich mit Pfannkuchen fütterte. Ich glaube, ich kann nie mehr welche essen.»
«Na, dem können wir doch vorbeugen, wenn wir die Köchin verständigen. Sie wird schon andere Leckerbissen für dich haben. Und du verstehst dich ja darauf, den Köchinnen deiner Gastfreunde den Hof zu machen. Lindeholm bietet außerdem ein ganz vorzügliches Skigelände, und ich glaube, dort spukt sogar ein Gespenst.»
«Gespenster können mir gestohlen werden», rief Erling abwehrend. Er dachte an ein anderes Erlebnis dieser Art und hatte plötzlich alle Lust auf Wintersport verloren.
*
Jacks Onkel, Gutsbesitzer Ernst Fischer, erwartete die Klasse auf dem kleinen Bahnhof mit vier großen Schlitten, die dann mit den Jungen durch die verschneite Landschaft Südseelands in Richtung Lindeholm glitten. Den Gastgeber freute die Invasion ganz offensichtlich. Als die Schlitten die steinerne Brücke passierten, die über den alten Wallgraben zum Vorhof führte, erwartete die Gäste ein überraschender Anblick. Gegen den weißen Hintergrund standen die roten Mauern des schönen Gutshauses aus dem 16. Jahrhundert vor ihnen, das eher einem alten Schloß glich. Große Tannen trugen schwer an ihrer Schneelast, und dicke Eiszapfen hingen vom Dach herab. Es war wie eine Weihnachtskarte. Onkel Ernst hieß sie nochmals alle herzlich willkommen und schaute sich dann suchend in der Schar um. «Wer von euch ist denn Erling?»
Erling trat hervor, und der Gutsbesitzer schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken. «Deinetwegen haben wir ein Schwein mehr geschlachtet, damit du hier nicht Hungers stirbst, mein Freund.»
Erling lachte etwas verlegen und bedankte sich dann höflich.
Erling und Jesper wurden in einem Zimmer untergebracht, während Jan sein Zimmer mit Jack teilte.
«Na», meinte Jan lachend, «an tiefen Fensternischen als Versteck für Gespenster fehlt es hier ja nicht. Ich bin sicher, Erling wird sich besonders darüber freuen. Hausgespenster scheut er wie die Pest. Meine Schwester Lis hat ihn früher mal arg damit erschreckt.»
«Dann ist es gut, daß sie diesmal zu Hause geblieben ist», antwortete Jack vom Waschbecken her. «Mich interessiert es mehr, daß es hier fließendes warmes Wasser gibt.»
«Ja, das kann man brauchen», meinte Jan, während er zum Fenster hinaussah. «Wenn der Schnee so weiterfällt, sind wir bald eingeschneit. Nur gut, daß wir Ski dabei haben.»
«Und heute nachmittag machen wir gleich die erste Tour», erklärte Jack.
«Natürlich! Prima! Bloß, meinst du wirklich, es macht deinem Onkel nichts aus, daß wir so viele sind?»
«Nein», ertönte es von der Tür. «Es macht ihm nichts aus. Er freut sich, daß endlich wieder Leben auf dem Hof ist.» Onkel Ernst stand höchstpersönlich in der Türöffnung und lächelte freundlich. «Seit meine Söhne aus dem Haus sind, ist es hier viel zu ruhig geworden. Auf Wiedersehen bei Tisch.» Damit ging er weiter, um sich auch nach seinen anderen jungen Gästen umzusehen.
Die Tage auf Lindeholm vergingen nur allzu schnell. Vormittags machten die Jungen Ski-Ausflüge und am Nachmittag übten viele an einer kleinen selbstgebauten Sprungschanze. Allerdings kamen hierfür nur die Fortgeschrittenen in Frage, aber die übrigen schauten gern zu, wenn ihre Kameraden versuchten, sich gegenseitig zu überbieten.
Abends saßen sie alle mit Onkel Ernst und seiner Frau im großen Wohnzimmer. Schüsseln voller Gebäck und Obst warteten dort auf die Jungen, und Onkel Ernst erzählte ihnen Geschichten aus seiner Jugendzeit, als er noch ein Weltenbummler gewesen war.
«Wollt ihr alle weiterstudieren, wenn ihr im Frühjahr die Schule abgeschlossen habt?» fragte er eines Abends.
Die meisten wollten es.
«Und wird keiner von euch erst einmal für eine Weile ins Ausland gehen?»
Nein, keiner hatte solche Pläne. Onkel Ernst schüttelte den Kopf. «Daheim werdet ihr später noch jahrelang sitzen. Jetzt solltet ihr dort hinausziehen und euch den Wind um die Ohren wehen lassen. Aber das kann ja immer noch kommen. Vielleicht ist es gut, daß man nichts im voraus weiß. Was habt ihr denn für morgen vor?»
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