Knud Meister und Carlo Andersen
Gegen Westen loderte der Sonnenuntergang wie Feuer und warf seinen flammend-roten Schein über die Wellen des Atlantischen Ozeans. Am Horizont glühte ein Streifen wie geschmolzenes Kupfer. Seevögel umkreisten schreiend die ‹Flying Star›, die über die Wogen ihrem fernen Ziel entgegeneilte.
Der Seemann im Ruderhaus kniff die Augen zusammen und betrachtete den Himmel über der untergehenden Sonne. Bleigraue Wolkenfetzen trieben hoch über dem Feuermeer, und als die Augen des Mannes jetzt prüfend über das Wasser schauten, sahen sie bis zu dem goldenen Sonnenstreifen nur noch dunkle, fast schwarze Wellen.
Er faßte das Ruder fester und lauschte mit Befriedigung dem regelmäßigen, rhythmischen Ton des starken Motors. Sein Seemannsherz freute sich, wie sicher die große Jacht auf den unruhigen Wellen lag. Hier in der Biskaya wurden die Eigenschaften eines Schiffes nur allzuoft auf die Probe gestellt.
Aber mit der ‹Flying Star› durfte man wahrhaftig zufrieden sein. Sie war durch und durch ein erstklassiges Schiff! Mit ihr konnte man gewiß ohne Schwierigkeiten die begonnene Weltreise durchführen.
Die Tür zum Ruderhaus wurde geöffnet, und ein Mann trat ein. «Na, Marstal», sagte er gutgelaunt, «wie geht’s?»
Der Steuermann nickte bedächtig. «Alles in Ordnung, Ingenieur Smith. Ich dachte gerade, was für ein prima Schiff die ‹Flying Star› ist. Ich war ja schon einige Male in der Biskaya... kenne sie bald wie meine Westentasche... aber mit der ‹Flying Star› braucht man nicht bange zu sein.»
«Warum sollte man auch?» fragte der Ingenieur und zündete seine Pfeife an.
Marstal warf von neuem einen Blick zum Himmel. «Hm», brummte er darauf, «die Wolken sehen nicht gerade verheißungsvoll aus. Müßte mich sehr irren, wenn wir nicht in böses Wetter geraten...» Er grinste breit und meinte: «Für Jesper wird’s am schlimmsten.»
Smith lächelte. «Na ja, es wäre übertrieben, zu behaupten, daß der Junge seefest sei.»
«Mit der Zeit wird er es schon lernen», meinte Marstal. «Ist alles nur Gewohnheit. Als ich das erstemal zur See fuhr, war mir hundeübel. Ich war so elend, daß ich nur noch einen Wunsch hatte: Packt mich doch bei den Beinen und befördert mich über Bord! Aber wer tat mir schon den Gefallen. Nein, die ließen mich einfach da liegen und den Göttern opfern. Nur langsam wurde ich wieder fit. Jesper hat es da heute besser, er kann einfach eine Tablette schlukken. Das gab’s zu meiner Zeit nicht.»
Ingenieur Smith konnte sich das Lachen kaum verbeißen. Der gute Frederik Petersen – dessen Spitzname Marstal war – sprach von seinen Weltreisen immer so, als sei er seit Jahrzehnten auf den sieben Meeren gesegelt. Dabei war er erst Mitte Zwanzig. Aber tüchtig war er... fast ebenso tüchtig wie der Erste Bootsmann Peter Nielsen. Die beiden kamen glänzend miteinander aus, wenn sie sich auch ständig darüber stritten, ob Marstal, Petersens Heimatort, oder Svendborg, wo Nielsen zuhause war, der berühmtere Hafen Dänemarks sei.
Sie standen eine Weile schweigend da, während sich die Wolken immer dichter zusammenzogen und die Sonne langsam am Horizont verschwand. Die ‹Flying Star› kam gut voran und hielt mühelos ihren Kurs. Aber jetzt fuhren sie der Dunkelheit und dem aufkommenden Sturm entgegen.
«Wie wäre es mit einer Ruhepause, Marstal?» fragte Smith. «Ich übernehme gern das Ruder, während Sie essen.»
Marstal fuhr sich mit der Hand durch seine helle Mähne und nickte zufrieden. «Das ist bestimmt eine gute Idee. Wenn ich mich nicht beeile, kriege ich nichts mehr.» Er warf noch einen Blick auf den Ingenieur, der seinen Platz am Ruder eingenommen hatte. «Der Kurs ist einfach zu halten. Wir steuern geradewegs auf den Leuchtturm da vorne zu. Ich werde schon dafür sorgen, daß Nielsen gleich ’raufkommt und seine Wache übernimmt.»
Ingenieur Smith lachte. «Er war vollauf damit beschäftigt, den Jungen sein Seemannsgarn vorzuspinnen. Ich mochte ihn nicht unterbrechen.»
«Ach, der! Der ist angefüllt mit Lügengeschichten. Ja, genau das ist er», meinte Marstal brummend und sah ganz grimmig dabei aus.
Smith verzog den Mund. «Hm. Was das Seemannsgarn angeht, halten Sie sich doch auch nicht immer ganz an die Wahrheit... Aber nun gehen Sie erst einmal essen, ich halte den Kurs schon.»
Es schien fast, als wolle Marstal gegen den Vorwurf Einspruch erheben, dann aber knurrte er bloß: «In Ordnung, ich gehe hinüber.»
Er ging nach achtern in die Kajüte, wo die Mannschaft um den Abendbrottisch versammelt war. Einen Augenblick blieb er in der Tür stehen und betrachtete die Mitglieder der Tafelrunde: Jan, Erling, Jack, Jesper, Carl und dazu Peter Nielsen. Der Anblick des breit grinsenden Rotschopfes machte ihn sogleich kampflustig.
Gerade gab Peter wieder eine Probe seiner überschäumenden Phantasie ab. Er dichtete wild drauflos, wobei er aber gewiß keinen Augenblick annahm, daß jemand seinen Geschichten Glauben schenkte. Hätte man ihn gefragt, ob er denn wirklich selbst glaube, was er da erzählte, wäre er sicher höchst verblüfft gewesen. Warum sollte er nicht Geschichten erzählen, wie es ihm und seinen Zuhörern Vergnügen machte, selbst wenn es nicht die reine Wahrheit war. Ein Schriftsteller benutzt ja auch oft bekannte Gegenden und Geschehnisse, die wirklich vorgefallen sind – und doch schreibt er einen Roman und nicht einen Tatsachenbericht.
«Na», brummte Marstal. «Hast du dich genug vollgestopft, um endlich deine Wache übernehmen zu können? Der Ingenieur hat für ein paar Minuten die Wache übernommen.»
«Ich bin gleich soweit», gab Peter ohne große Begeisterung zur Antwort.
Erling protestierte energisch: «Nein, jetzt habe ich gerade frischen Tee gebraut, jetzt will ich auch sehen, daß dir eine Tasse davon schmeckt. Sonst macht es ja keinen Spaß, für die Verpflegung an Bord verantwortlich zu sein.»
«Wo ist Yan Loo?» fragte Marstal und setzte sich.
«Der hat sich schon verkrochen», gab Peter zur Antwort. «Er war müde. Für ihn muß es ja auch langweilig gewesen sein, weil wir uns auf dänisch unterhielten. Ich glaube, wir müssen ihm schnellstens unsere Sprache beibringen.»
«Ach wo, damit müssen wir ihm Zeit lassen. Dänisch lernt man nicht so schnell. Und wenn’s darauf ankommt, dann geht ja alles gut auf englisch.»
«Ein Chinesenjunge aus England, der Dänisch spricht, das wäre ja auch fast zuviel auf einmal», sagte Jesper. Mit bedenklicher Miene fügte er hinzu: «Marstal, ich finde, es wird wackelig. Wir werden doch nicht etwa schlechtes Wetter bekommen?»
«Du kannst sicher mit einem netten kleinen Sturm rechnen», meinte Marstal lachend.
Jesper stöhnte schicksalsergeben. «O nein, nur keinen Sturm!»
«Wenn du keinen Wind verträgst, mußt du an Land bleiben», lautete Peters Kommentar dazu. «Die Biskaya ist immer unruhig. Man ist kein echter Seemann, bevor man nicht einen Sturm in dieser Ecke der Welt mitgemacht hat.»
«Bist du schon in der Biskaya gewesen, Peter?» fragte Jan.
«Millionen Male!»
«Ach Quatsch!» sagte Jesper.
Erling wandte sich tadelnd seinem kleinen Freund zu. «Lieber Krümel, wenn Peter behauptet, er sei millionenmal in dieser Gegend gewesen, dann mußt du ihm das schon glauben und darfst nicht ‹Quatsch› sagen.»
«Ja, aber es ist doch ganz unmöglich, daß...»
«Bist du ruhig, du elende Krabbe! Wenn erwachsene Seeleute reden, mußt du den Mund halten. Und überhaupt würden wir gern von Peter hören, wie seine spannendste Fahrt durch die Biskaya verlaufen ist. Du hast doch bestimmt einiges hier erlebt, nicht wahr, Peter?»
«Und ob!» bestätigte Peter. «Die spannendste Fahrt? Laßt mich mal nachdenken. Das muß die Anfang 1944 gewesen sein...»
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