Knud Meister und Carlo Andersen
Die Stimmung im Schulzimmer stieg so hoch, dass sie sich in bedenklichem Grade dem Siedepunkt näherte. Erstens war es Dienstag vor Ostern, und zweitens hatte sich die wohlbeleibte Gestalt des Mathematiklehrers Rasmussen noch nicht in der Türöffnung gezeigt, obwohl die Uhr schon Viertel nach neun Uhr zeigte. Was in aller Welt mochte nur mit «Ras» los sein, der sonst ebenso korrekt, unanfechtbar und genau war wie eine mathematische Formel? Noch nie war er auch nur zwei Sekunden zu spät zum Unterricht gekommen!
«Wahrscheinlich sitzt er noch zu Hause und grübelt über die Quadratur des Kreises nach», meinte der kleine Jesper und liess einen grossen Bissen Brot mit Leberpastete zwischen den weissen Zähnen verschwinden.
«Oder über die Dreiteilung des Winkels», setzte Holger fort, der im allgemeinen als der witzigste Kopf der Klasse galt. «Für Ras wird es ein grosser Tag sein, wenn er diese beiden Probleme gelöst hat, über die sich Archimedes und die anderen mathematischen Grössen vergeblich den Kopf zerbrochen haben.»
«Ha, Erling wird ihm bei beiden wahrhaftig noch zuvorkommen», lachte Jesper und hustete heftig, weil ihm ein paar Krumen in die falsche Kehle geraten waren.
«Gib acht, dass du nicht erstickst!» warnte Erling. «Das wäre ein unersetzlicher Verlust für unsere ruhmreiche alte Schule.»
Alle Knaben fachten lachend das Feuer des Streites an, damit es eine kleine Balgerei gab zwischen Erling, dem Primus der Klasse, und dem kleinen Jesper, dessen Mundwerk nie zu wünschen übrigliess, ausser wenn er in der Schule abgehört wurde.
Doch wie üblich war Erling Krag höchst friedfertig gesinnt. Er spürte nicht die geringste Lust zu einer Keilerei, sondern kehrte Jesper würdevoll den Rücken und begann mit Kennermiene sein Frühstückspaket zu untersuchen. Ein dick mit geräuchertem Aal und Rührei belegtes Butterbrot fand Gnade vor seinen Augen, und eine Sekunde später tat er es Jesper gleich und biss in das Brot.
Erlings Appetit war stets in bester Ordnung, zumal wenn etwas Leckeres auf dem Speisezettel stand. Das war eine Tatsache, die seine Mutter von jeher erfreut hatte, wohingegen der Vater öfters Bedenken äusserte. Nach der Meinung des Grosskaufmanns Krag hätte sich ein rechter Junge ein bisschen weniger für die Apfeltorten, Pfannkuchen mit Erdbeerkonfitüre und anderen Leckereien aus der Kragschen Küche interessieren müssen, aber Erling behauptete steif und fest, dass die Hirntätigkeit von einer bestimmten Menge Apfeltorte, Pfannkuchen mit Konfitüre und dergleichen abhängig sei, und dieser kühnen Behauptung gegenüber pflegte Herr Krag die Waffen zu strecken. Er hatte nie Grund gehabt, sich über die Hirntätigkeit seines Sohnes zu beklagen; im Gegenteil, Jahr um Jahr bewahrte Erling seine Stellung als Klassenerster in sämtlichen Fächern — ausser im Turnen! Sein Allerwertester war mit der Zeit etwas zu schwer geworden, wenn es sich darum handelte, schwungvoll über das Pferd zu springen, an Tau oder Stange emporzuklettern oder auf der Matratze Geschmeidigkeitsübungen zu vollführen. Ohne sonderliche Begeisterung sah Erling den Stunden entgegen, in denen der Turnlehrer Gregersen mit einem zusammengelegten Sprungseil in der rechten Hand herumspazierte. Der Turnlehrer hatte nämlich die leidige Gewohnheit, demjenigen, der auf dem Pferd hängenblieb, leichte Schläge auf die Verlängerung des Rückens zu versetzen — und in den letzten beiden Jahren war es Erling kein einziges Mal geglückt, hinüberzukommen!
Erlings bester Freund und Banknachbar, Jan Helmer, war in mancher Beziehung sein Gegenstück, am ausgeprägtesten auf turnerischem Gebiet. Jan war schlank und geschmeidig wie ein Panther, der unbestrittene Erste bei allen Leibesübungen; Bücherweisheit aber liebte er weniger als Turnen, Schwimmen und Fussball. Dabei war Jan keineswegs dumm. Er lag seinen Schulpflichten mit dem Fleiss und der Anteilnahme ob, die man sich selbst und seinen Eltern schuldet, doch in die Nähe des ersten Ranges war er nie gelangt. Die Lehrer stimmten darin überein, dass er sehr fleissig war und dem Unterricht gut folgte, und nur seine mangelnde Ordnung war daran schuld, dass seine Betragensnote stets ein kleines Minus aufwies, obwohl das Zeugnis sich sonst sehr schön ausnahm. Die Mutter freute sich nie über das Minus, wenn Jan sein Zeugnis vorwies; der Vater hingegen nahm es weniger ernst. Er begnügte sich damit, Jan gutmütig ins Ohrläppchen zu kneifen und einige ermahnende Worte zu äussern, die seinem Sprössling allerdings nicht sehr zu Herzen gingen. Kriminalkommissar Mogens Helmer konnte sich nicht erinnern, selbst in der Schule jemals eine einwandfreie Betragensnote erhalten zu haben — aber das verriet er Jan natürlich nicht.
Erling und Jan waren unzertrennliche Freunde. Hätten sie in der Wikingerzeit gelebt, so hätten sie zweifellos ihr Blut vermischt und sich Freundschaft bis zum Tode geschworen; doch sie lebten im zwanzigsten Jahrhundert, wo derartige dramatische Unternehmungen nicht mehr Mode sind. Andererseits muss eingeräumt werden, dass ihre Freundschaft der Dramatik nicht entbehrte. Nicht umsonst war Jan der Sohn des bekannten — und von allen Verbrechern gefürchteten — Kriminalkommissars Mogens Helmer. Jan brachte dem spannenden und gleichzeitig gemeinnützigen Beruf seines Vaters von jeher grösste Anteilnahme entgegen, und mehrmals hatte er schon trotz seiner Jugend der Kriminalpolizei wertvolle Hilfe geleistet. Dabei war Erling ein ausgezeichneter Beistand gewesen. Das letztemal hatten sie vor einem halben Jahr in Nordseeland zwei internationale Schwindler und Juwelendiebe entlarvt. a)
Jan gab seinem kauenden Freund einen unsanften Stoss in die Seite: «Hör mal, Erling, weisst du nicht, dass man dick wird, wenn man zur Unzeit futtert?»
«Man wird dick?» Erling kaute seelenruhig weiter. «Dann laufe ich ja keine Gefahr!»
«Na, für einige Pfund Zunahme besteht immer noch Möglichkeit», lachte Jan. «Wo bleibt nur Ras, was glaubst du?»
«Keine Ahnung, Herzensfreund. Möchtest du ein Butterbrot mit Bückling haben?»
«Nein, danke. Ich will nicht schuld daran sein, dass du später vor Hunger ohnmächtig wirst. Au!»
Jan griff sich in den Nacken, wo ihn ein mit aller Kraft geschleudertes, festes Papiergeschoss getroffen hatte. Er drehte sich um und betrachtete streng die vielen lachenden Gesichter. Irgendein Junge hatte natürlich seine Schleuder benutzt, aber es war keine Waffe zu sehen. Da begann Jan selbst zu lachen, und er rief: «Warte nur bis zur Pause, Per!»
«Ich war’s nicht», erklärte Per schnell.
«Dann warst du’s, Leif!»
«Keine Rede! Ich habe meine Schleuder zu Hause gelassen.»
«Gebrauch nur deinen detektivistischen Scharfsinn, Sherlock Holmes», riet der witzige Holger. «Ich wette um einen Schokoladestengel, dass du den Schuldigen nicht finden wirst.»
«Das Geld sitzt dir sonst nicht so lose in der Tasche», neckte Jan gutmütig, «du musst also deiner Sache sehr sicher sein. Aber es könnte ja sein, dass ich dir doch überlegen bin. Du meinst hoffentlich einen Stengel für fünfundzwanzig Öre?»
«Ja», antwortete Holger ein wenig zögernd.
Jan bückte sich und hob die kleine Papierkugel vom Boden auf. Sie erwies sich als ein zusammengerolltes Stück von einer Ansichtspostkarte. Er glättete es vorsichtig und betrachtete es eine Weile schweigend. Auf der Rückseite fand sich ein Teil des mit Tinte geschriebenen Textes, der jedoch nicht viel Aufschluss gab. Hingegen war die Vorderseite fesselnder. Hier sah man einen Teil irgendeines photographierten Bauwerks.
Jan musterte das Bildfragment von allen Seiten, wurde aber dadurch nicht klüger. Mit einem ergebenen Seufzer schob er Erling den Papierfetzen zu und fragte: «Allwissender Herr Professor, kannst du mir zufällig verraten, was das hier vorstellen soll?»
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