„Herr, ich glaube, Junus‘ Erinnerung wurde manipuliert“, mutmaßt Nadar.
„Erinnerungen vermag man zu manipulieren. Gefühle nicht. Junus liebt Hope. Ich spüre es selbst. Erkenne es an der Art, wie er sie ansieht. Die Liebe, die er als Bruder für sie empfindet, ist keineswegs gespielt“, meint Beliar.
„Das behaupte ich auch nicht, Herr. Ich bin der festen Überzeugung, die Liebe zu seiner Schwester ist aufrichtig. Man hat ihm nur die falschen Bilder ihres Körpers eingepflanzt. Wer immer es getan hat, will erreichen, dass Ihr Euch mit diesem Kuckuckskind vermehrt“, erklärt der Seher. Kuckuckskind ? Vermehren ? Der hat sie nicht mehr alle.
„ Unmöglich . Hope ist aufrichtig. Sie lässt sich nicht wie eine Marionette behandeln. Selbst als Lord McConnor das von ihr, unter Androhung, ihren eigenen Bruder zu töten, verlangt hat, hat sie keine Sekunde in Erwägung gezogen, den Zirkel zu verraten. Sie hat mehr als einmal klargemacht, dass sie sich nicht für die Zwecke anderer missbrauchen lässt“, verteidigt mich Beliar. Danke, Mann.
„Das mag ja alles sein, aber bedenkt die Möglichkeit, dass sie ebenfalls gar nichts von ihrem Zweck weiß, Herr. Was, wenn man ihr, wie dem Ador-Hexer, eine falsche Erinnerung eingepflanzt hat. Man lässt sie durch die Manipulation ihrer Erinnerungen im Glauben, die Ador-Hexe zu sein. Sie weiß womöglich gar nicht, für welche Machenschaften sie die Marionette ist. Oder man hat es sie vergessen lassen. Das wäre doch die perfekte Tarnung für einen Plan, der weit größer ist, als man ihr zutrauen würde. Noch dazu bräuchte sie nicht einmal so zu tun, als sei sie eine andere Frau. Sie ist absolut davon überzeugt, weil sie es nicht besser weiß“, wirft der Seher ein.
„Was willst du damit andeuten?“, hakt Beliar nach.
„Herr, ich kann nicht länger schweigen. Mir ist nicht entgangen, dass Ihr eine gewisse Zuneigung für sie hegt, aber ich bin Euer Berater, also ist es meine Pflicht, auch unangenehme Botschaften zu überbringen. Als ich die Frau berührt habe, habe ich nichts gesehen. Absolut nichts“, informiert ihn Nadar.
„Was schließt du daraus?“, will Beliar wissen.
„Herr, ich sehe bei jeder meiner Berührungen etwas. Ich bin alle Möglichkeiten gedanklich durchgegangen und komme immer wieder zum selben Schluss. Sie muss eine schwarze Hexe sein.“ Hä ?
Beliar schnaubt laut auf. „Bist du verrückt geworden? Immerhin sprechen wir hier von Hope. Ich kenne diese Frau, sie ist keine Besessene der dunklen Künste.“ Besessene ? Dunkle Künste ? Jetzt geht aber ihre Phantasie mit ihnen durch.
„Kennt Ihr sie wirklich, Herr? So gut, dass Ihr mit absoluter Sicherheit sagen könnt, sie sei keine schwarze Hexe? Vor allem, wenn man eins und eins zusammenzählt. Ihre Täuschungsmanöver gegen Euch. Verrückte Pläne. Manipulierte Erinnerungen. Die Tatsache, dass sie immun gegen Eure Zauber ist. Der Drache, der Rabe … beides dunkle Symbole“, zählt Nadar auf.
„Mich haben diese Symbole auch erwählt. Sie prangen an meiner Brust und machen mich nicht zu einem schwarzen Hexer“, erklärt Beliar forsch.
„Ja Herr, aber Eure Brust zieren noch viele andere, ausgleichende Symbole weißer Magie. Ihr Körper trägt keine balancierenden Zeichen. Die schwarzen Hexen tragen ausschließlich dunkle Symbole auf ihrem Körper“, informiert er ihn.
„Nein, das kann und will ich nicht glauben. Hope ist nicht böse. Sie hatte die Chance, Lord McConnor zu enthaupten. Der Mann, der ihre leiblichen Eltern verbrennen und ihre Zieheltern ermorden ließ. Sie hat es nicht getan. Hat ihn stattdessen in ihre Welt mitgenommen, damit er vor ein Gericht gestellt wird. Sag mir Nadar, welche schwarze Hexe würde keine Rache am Mörder ihresgleichen üben wollen?“, verlangt Beliar.
„Ich habe nicht gesagt, dass sie bereits durch und durch böse ist, Herr. Sagen wir einmal so, sie trägt ein Potenzial in sich. Ihre schwarzen Kräfte wurden nicht erweckt. Ihre weißen Kräfte schon. Sie ist sozusagen ein schwarzer Körper, der weiße Magie in sich trägt. Was überaus seltsam ist.“ Ich zeig dir gleich, wer hier seltsam ist, Quatschkopf.
„Überlegt doch Herr“, fährt er fort. „Sie ist außergewöhnlich stark. Sogar gegen Eure Zauber ist sie immun und Ihr seid der stärkste weiße Hexer. Es ist die falsche Magie im falschen Körper. Ich kenne keine schwarze Hexe, die mit weißer Magie geweckt wurde. Jetzt ist sie Euch bereits ebenbürtig. Kaum auszudenken, wenn sie schwarze Kräfte in sich tragen würde. Nun stellt Euch vor, Ihr nehmt sie zur Frau und derjenige, der die Fäden in der Hand hält, weckt ihre Kräfte. Sie könnte den Zirkel übernehmen oder Euch fremde Nachkommen unterjubeln. Ebenfalls Kuckuckskinder. Ich sage Euch, es ist der Angriff der Schwarzen Gilde . Jahrelang vorbereitet. Ein genialer Plan. Sie waren zur rechten Zeit, am rechten Ort. Genau in dem Moment, in dem die Ador angegriffen wurden, haben sie das Mädchen ausgetauscht – durch eine von ihnen. Im Hinterkopf habend, dass Ihr nach ihr suchen werdet. Bei dem Angriff wurde doch der Junge überwältigt. Man hat ihm das Mädchen vorher entrissen. In dieser Zeit könnte man seine Erinnerungen gestohlen und manipuliert haben. Man gab sie der falschen Ador-Hexe und ließ sie glauben, es wären ihre Kindheitserinnerungen. Dem Jungen hat man einfach nur das wahre Gesicht seiner Schwester genommen und stattdessen das Antlitz der schwarzen Hexe eingepflanzt. Darum liebt er sie auch, wie eine Schwester, weil es seine Erinnerungen sind. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Ihr die falsche Ador-Hexe finden würdet. Natürlich haben sie nicht irgendeine Hexe genommen. Nein, sie nahmen eine Schönheit, damit sie sicher sein konnten, dass Ihr ihr nicht widerstehen könnt.“ Was für eine abartig zusammengereimte Story.
„Wenn das wahr wäre, aus welchem Grund haben sie dann die richtige Ador-Hexe nicht umgebracht?“, hinterfragt Beliar die Worte des Sehers. Glaubt er den Scheiß etwa?
„Ich weiß es nicht, Herr.“
„Ich glaube das einfach nicht, Nadar.“ Beliar rauft sich die Haare.
„Glaubt es lieber, Herr. Es passt alles zusammen“, stößt der Seher rechthaberisch aus.
„Was, wenn die Hexe in meinem Gemach das Kuckuckskind ist?“, mutmaßt Beliar.
„Herr, Ihr habt doch den Arzt selbst verhört, der die wahre Ador-Hexe vom Säuglingsalter an behandelt hat. Wenn Ihr meinen Visionen schon keinen Glauben schenkt, dann ruft Euch seine Aussage in Erinnerung. Schwarze Augen, abstehende Ohren, die sichelförmige Narbe. Ihr habt sicher die Merkmale der Frau kontrolliert. Trägt sie sie?“, will Nadar wissen.
„Ja“, gibt Beliar zu.
„Meiner Einschätzung nach spricht mehr für die Hexe in Eurem Gemach als für die, die im 21. Jahrhundert lebt, Herr. Außerdem passen auch ihre Tätowierungen, einschließlich der bezeugten optischen Merkmale zu denen der Ador. Herr, ich habe die Wut in der Frau, die Ihr für die richtige Hexe haltet, förmlich auf meiner Haut gespürt. Wahrscheinlich wehrt sich ihr Körper bereits gegen die weiße Magie, die sie schon viel zu lange durchströmt. Ich sage Euch, sie wird bald zu einer Besessenen.“ Na dann warts mal ab, bis dir die „ Besessene “ zeigt, was ein rechter Kinnhaken ist, du Pissnelke.
„Ich kann das nicht glauben. Ich …“ Beliar ist wohl sprachlos.
„Herr, es steht mir nicht zu, Euch Flausen in den Kopf zu setzen. Ich schlage also vor, Ihr prüft sie selbst, ob sie eine schwarze Hexe ist. Außerdem wird der Bluttest sowieso bald zeigen, ob Junus und die Hexe verwandt sind. Wenn dem nicht so ist, wisst Ihr es zumindest mit Sicherheit, dass schwarze Magie in ihr fließt und könnt die Pläne der Schwarzen Gilde durchkreuzen. Vielleicht nutzt Ihr die Frau auch gleich selbst, um sie gegen Eure Feinde einzusetzen“, schlägt der Quacksalber vor. Hey, was zum Teufel soll das?
Читать дальше